Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
eine halbe Stunde auf einer unbequemen Holzbank warten. Erst dann kommt eine schlanke Frau die Treppe herunter und geht zielstrebig auf ihn zu. Swensen erhebt sich.
»Herr Swensen?«, fragt sie. Er erkennt ihre raue Stimme sofort aus ihrem gemeinsamen Telefonat. Aus dem schmalen, faltenfreien Gesicht gucken ihn zwei lebendige blaue Augen an. In ihren blonden Haaren prangt eine breite rote Strähne. Die ausgeprägte Oberweite dominiert ihre jugendliche Ausstrahlung.
So eine Stimme und so ein Körper, denkt Swensen und schätzt sie auf höchstens achtundzwanzig.
»Elisabeth Karl?«, fragt Swensen mit ungläubigem Blick zurück.
»Haben Sie jemand anderen erwartet?«
»Nein, das nicht …«
»Aber doch wohl älter, oder?«
»Na ja, manchmal denkt man eben, die Welt ist immer so alt wie man selbst.«
»Ich bin trotzdem ganz gut in meinem Job!«
»Das wollte ich damit nicht anzweifeln. Übrigens, ich hatte Sie mir auch viel älter vorgestellt!«
»Oh, Sie können ja richtig austeilen.«
»Kein Wunder, mein Alter gehört mit zu den Hauptthemen bei den Männern.«
Der Weg führt kreuz und quer über ellenlange Flure, durch Sicherheitstüren und Treppenhäuser. Nach kurzer Zeit hat Swensen jegliche Orientierung verloren. Dann betreten sie einen Raum mit verdunkelten Fenstern, der einem Fotolabor gleicht.
»Dann zeigen Sie mal her, was Sie Schönes haben!«
Swensen öffnet seine Tasche und zieht den Umschlag mit dem Foto heraus. Er nimmt es heraus, legt es auf den Tisch und deutet mit dem Finger auf den unteren Rand.
»Dort liegt etwas im Sand. Ist es möglich rauszukriegen, was das ist?«
Elisabeth Karl sieht sich die Stelle mit der Lupe an.
»Kann ich das Negativ haben?«
»Klar, sofort!«
Swensen holt eine Klarsichthülle mit Negativen aus seiner Tasche.
»Das betreffende Bild ist angekreuzt.«
Elisabeth Karl zieht das Negativ vorsichtig aus der Hülle und hält es zwischen zwei Fingern gegen ein Licht.
»Wunderbar, ein feinkörniger Film. Allerbeste Voraussetzung. Ich denke, das müsste gehen. Schätze, wir werden dem Rätsel auf die Spur kommen.«
Sie legt das Negativ in einen Spezial-Scanner. Ein kurzes Surren und auf dem Computerbildschirm erscheint das negative Abbild. Ohne auf ihre Finger zu achten, bearbeitet Elisabeth Karl zielsicher ihre Tastatur. Der Cursor klickt auf ein Symbol der Menüleiste und aus dem Negativ wird ein Positiv. Noch ein Klick. Der Ausschnitt mit dem geheimnisvollen Objekt erscheint vergrößert. Wieder ein Klick. Schärfe und Kontrast verbessern sich wie von Geisterhand. Swensen kann den schnellen Abläufen auf dem Schirm kaum folgen.
»Ich mach jetzt einen Phasenshift«, erklärt sie.
»Ich versteh nur Bahnhof!«, erwidert Swensen.
»Das Programm erstellt dabei mehrere Bilder, die in der Phase geringfügig verschoben werden. Bei jedem Scann wird ein anderer Referenzstrahl verwendet. Die berechnete Phasenverschiebung wird dann in ein neues Graustufenbild umgesetzt.«
»Machen Sie einfach, Frau Karl! Ich glaube, Sie können sich die Erklärungen sparen.«
Der vergrößerte Ausschnitt legt sich mehrmals übereinander, wobei sich jedes Bild leicht überlappt über das jeweils untere legt. Am Ende verschmelzen alle wieder zu einem einzigen Bild. Das Teilchen zeichnet sich jetzt vom Untergrund ab, mutiert in mehreren abgehakten ›Blow up‹-Sprüngen zu einer Wappenform, aus der etwas Langes, Spitzes herausragt.
»Eine Anstecknadel!«, jubelt Swensen im Tonfall einer überraschenden Erkenntnis.
Mit der Maus markiert Elisabeth Karl mehrere Bildpunkte. Das Objekt hebt sich dreidimensional aus dem Untergrund. Noch einmal verstärken sich Schärfe und Kontrast. Swensen beugt sich über den Bildschirm.
»Da ist was drauf.«
»Scheint so’ne Art Comicfigur zu sein. Ich tippe auf eine Biene. Vielleicht die Biene Maja?«
»Eine Biene? Eine Anstecknadel mit einer Biene. Wer trägt denn so was?«
»Das müssen Sie rauskriegen.«
* * *
Der Blick in den Hinterhof ist ernüchternd. Es ist stockdunkel dort, kaum etwas zu erkennen, nur der Schein einiger Neonlichter aus dem nahen Rotlichtviertel dringt mit einem bunten flackernden Lichtspiel durch die Toreinfahrt. Swensen tritt vom Fenster zurück und zieht die Vorhänge vor. Die Nachttischlampe neben dem Standardbett leuchtet schwach. Er öffnet die Minibar und nimmt sich ein Mineralwasser heraus. Doch der nötige Flaschenöffner dazu ist nicht zu entdecken. Swensen zieht alle Schubladen auf. Ergebnislos. Er greift
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