Hafen der Träume: Roman (German Edition)
Kleine. »Seth, geh mit Sybill ins Wohnzimmer, dort kannst du dein Geschenk auspacken.«
»Klar.« Er wartete, bis Sybill aufgestanden war, dann ging er mit einem Schulterzucken voraus.
»Ich hab’ es in Baltimore besorgt«, fing Sybill an, der die Situation entsetzlich peinlich war. »Wenn es dir nicht gefällt, kann Phillip es für dich umtauschen.«
»Okay.« Er holte ein Paket aus der ersten Tüte, hockte sich in Indianerstellung auf den Fußboden und riss das Geschenkpapier auf, dessen Wahl ihr so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte.
»Du hättest auch Zeitungspapier nehmen können«, schmunzelte Phillip und zwang sie sanft auf einen Stuhl.
»Es ist ein Holzkasten«, stellte Seth fest, und Sybills Herz sank bei seinem gelangweilten Tonfall.
»Ja, ehm … ich hab’ die Quittung aufgehoben. Du
kannst es zurückbringen und dir was anderes dafür aussuchen.«
»Ja, okay.« Doch dann bemerkte er das belustigte Funkeln in Phillips Augen und bemühte sich, höflich zu sein. »Ein hübscher Kasten.« Am liebsten hätte er die Augen verdreht. Dann ließ er gelangweilt den Messingverschluss aufschnappen. »Heiliger Bimbam!«
»Herrgott, Seth!« wies Cam ihn halblaut zurecht, mit einem Blick über die Schulter zu Anna, die aus der Küche kam.
»Mann, seht euch das an! Da is’ ja alles drin. Kohle, Rötel, Pastellkreiden, Stifte.« Er sah Sybill verblüfft an. »Das soll ich alles bekommen?«
»Na ja, es gehört zusammen.« Nervös drehte sie ihre Silberkette um die Finger. »Du zeichnest so gut, da dachte ich mir … vielleicht willst du auch mal eine andere Technik ausprobieren. Im zweiten Kasten sind Farben.«
»Noch mehr?«
»Wasserfarben und Pinsel, Papier …« Sie setzte sich auf den Fußboden, während Seth begeistert die nächste Verpackung aufriss. »Vielleicht willst du mal mit Acryl arbeiten oder mit Tusche und Feder. Ich mag Aquarell am liebsten und dachte mir, du willst es vielleicht mal ausprobieren.«
»Hab’ ich noch nie versucht. Ich versteh nichts davon.«
»Es ist gar nicht so schwer.« Sie beugte sich vor, nahm einen Pinsel zur Hand und begann, ihm die Grundbegriffe der Aquarelltechnik zu erklären. Während sie redete, vergaß sie ihre Nervosität und lächelte ihm zu.
Das Licht der Lampe fiel schräg über ihr Gesicht, Seth sah sie von der Seite her an, etwas in ihren Augen ließ eine längst vergessen geglaubte Erinnerung in ihm aufsteigen.
»Hattest du ein Bild an der Wand? Blumen, weiße Blumen in einer blauen Vase?«
Sybills Finger verkrampften sich um den Pinsel. »Ja, in meinem Schlafzimmer in New York. Ein selbst gemaltes Aquarell. Kein sehr gutes.«
»Und auf einem Tisch standen bunte Flaschen. Viele Flaschen in verschiedenen Größen.«
»Parfumflaschen.« Ihre Kehle war zugeschnürt, sie musste sich räuspern. »Ich habe sie mal gesammelt.«
»Ich durfte mit dir in deinem Bett schlafen.« Seine Augen wurden schmal, so sehr konzentrierte er sich auf die verschwommenen Bruchstücke seiner Erinnerung. Angenehme Düfte, weiche Stimme, Farben, Umrisse. »Du hast mir eine Geschichte von einem Frosch erzählt.«
Froschk ö nig. Aus Sybills Erinnerung tauchte das Bild eines kleinen Jungen auf, der sich an sie schmiegte, die Nachttischlampe hüllte beide in warmes, weiches Licht ein, verbannte die Dunkelheit, und seine grossen blauen Augen waren voller Ernst auf sie gerichtet, als sie ihm vom Froschkönig erzählte, um seine Ängste mit einem Märchen voller Zauber und mit glücklichem Ausgang zu vertreiben.
»Du hattest … als du mich besuchen kamst, hattest du Albträume. Du warst noch ein kleiner Junge.«
»Ich hatte einen kleinen Hund. Du hast mir ein Hündchen geschenkt.«
»Kein echtes, nur ein Stofftier.« Tränen verschleierten ihr den Blick, in ihrer Kehle saß ein dicker Kloß, das Herz drohte ihr zu zerspringen. »Du … du hattest keine Spielsachen. Als ich dir das Hündchen brachte, hast du gefragt, wem es gehört, und ich sagte dir, es sei deins. Und du hast es ›Deins‹ getauft. ›Deins‹. Sie hat es nicht mitgenommen, als sie … Ich muss gehen.«
Sie sprang auf. »Tut mir Leid. Ich muss gehen«, stammelte sie und stürmte aus dem Zimmer.
KAPITEL 17
Sybill rannte zu ihrem Wagen und rüttelte an dem Türgriff, bis ihr einfiel, dass sie abgeschlossen hatte. Eine der typischen dummen Angewohnheiten einer Städterin, wie sie sich verzweifelt eingestand. Eine Angewohnheit, die hier in dieser herrlichen ländlichen Gegend ebenso wenig verloren hatte
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