Hafen der Träume: Roman (German Edition)
Stirn, am liebsten wäre sie an der Türfüllung nach unten gerutscht und hätte sich auf dem Fußboden zusammengerollt. »Ich habe nie vorgehabt …«
»Sie lügen.« Mit zwei Sätzen war er bei ihr, packte sie an den Armen und zog sie auf die Zehenspitzen hoch. »Ich denke, Sie wären vor nichts zurückgeschreckt. Es war ja nichts weiter als eine Objektstudie, wie? Mit dem zusätzlichen Vorteil, Ihrer miesen Schwester zu helfen, Geld von uns zu erpressen. Seth bedeutet Ihnen genauso wenig wie ihr. Er ist nur das Mittel zum Zweck für Sie beide.«
»Nein, das ist nicht … ich kann nicht denken.« Der Schmerz durchbohrte ihre Schädeldecke wie ein Folterwerkzeug. Hätte er sie nicht gehalten, sie wäre auf die Knie gesunken und hätte ihn angefleht. »Ich … wir reden morgen darüber. Ich fühle mich nicht wohl.«
»Auch das haben Sie mit Gloria gemeinsam. Ich falle nur nicht drauf rein, Sybill.«
Das Atmen fiel ihr schwer, ihr Gesichtsfeld engte sich ein, Konturen verschwammen. »Tut mir Leid. Ich kann nicht mehr stehen. Bitte, ich muss mich setzen.«
Er beobachtete sie scharf, schob seinen Zorn beiseite. Ihre Wangen waren kreidebleich, ihre Augen glasig, ihr Atem ging flach, gehetzt. Wenn sie einen Schwächeanfall mimte, dann hatte Hollywood einen Weltstar verpasst.
Leise fluchend schleppte er sie zum Sofa. Sie ließ sich kraftlos fallen und schloss die Augen.
»Meine Aktentasche. Meine Pillen sind in der Tasche.«
Neben dem Schreibtisch stand eine schwarze Aktentasche aus feinem Leder. Phillip sah die Fächer durch und fand ein Pillenfläschchen. »Imigran?« Er hob den Blick zu ihr. Sie hatte den Kopf zurückgelegt, die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, als wolle sie den Schmerz festhalten und zerquetschen. »Hochdosierte Migränepillen.«
»Ja. Manchmal bekomme ich einen Anfall.« Sie musste sich auf ihre Entspannungsübungen konzentrieren. Doch der Schmerz war in einem fortgeschrittenen Stadium,
in dem nichts mehr half. »Ich hätte sie mitnehmen müssen. Wenn ich sie bei mir gehabt hätte, wäre es nicht so weit gekommen.«
»Hier.« Er reichte ihr eine Pille und Wasser aus der Minibar.
»Danke.« In ihrer Hast verschüttete sie das halbe Glas. »Es dauert eine Weile, ist aber weniger scheußlich als die Spritze.« Sie schloss die Augen wieder und flehte innerlich, er möge gehen.
»Haben Sie gegessen?«
»Wie? Nein. Es wird gleich besser.« Sie wirkte so schwach, erschreckend zerbrechlich. Ein Teil von ihm gönnte ihr die Schmerzen, er war versucht, sie in ihrem elenden Zustand allein zu lassen. Dennoch nahm er den Telefonhörer ab und verlangte den Zimmerservice.
»Ich will nichts.«
»Halten Sie den Mund.« Er bestellte Suppe und Tee. Dann begann er, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Wie hatte er diese Frau so falsch beurteilen können? Dabei war es eine seiner Stärken, sich rasch ein richtiges und exaktes Bild von einem Menschen zu machen. Er hatte eine kluge, interessante Frau gesehen. Eine Frau mit Stil, Humor und Geschmack. Unter dieser glänzenden Fassade verbarg sich eine Lügnerin, Betrügerin und Opportunistin.
Er hätte beinahe laut aufgelacht. Diese Beschreibung traf genau auf den Jungen zu, den er sein halbes Leben lang zu Grabe getragen hatte.
»Ihren Notizen entnehme ich, dass Sie Seth seit Jahren nicht gesehen haben. Wieso wollen Sie ihn jetzt sehen?«
»Ich dachte, ich könnte helfen.«
»Wem?«
Die Hoffnung, dass der Schmerz bald nachlassen würde, gab ihr die Kraft, die Augen zu öffnen. »Ich weiß nicht. Ich wollte ihm und Gloria helfen.«
»Wenn Sie Ihrer Schwester helfen, fügen Sie ihm Schaden zu. Ich habe Ihre Notizen gelesen, Sybill. Wollen Sie mir weismachen, Ihnen liegt an dem Kind? ›Das Subjekt scheint gesund zu sein.‹ Seth ist, verdammt noch mal, kein Subjekt, er ist ein Kind.«
»Es ist wichtig, objektiv zu sein.«
»Es ist wichtig, menschlich zu sein.«
Das war eine Pfeilspitze, die sich schmerzhaft in ihr Herz bohrte. »Ich bin kein besonders gefühlsbetonter Mensch. Reaktionen und Verhaltensmuster sind eher meine Stärke als Emotionen. Ich wollte die Situation aus einer gewissen Distanz beurteilen, analysieren und dann entscheiden, welche Lösung für alle Beteiligten die Beste ist. Ich habe meine Sache nicht besonders gut gemacht.«
»Wieso haben Sie nicht früher etwas unternommen?« wollte er wissen. »Wieso haben Sie nichts getan, um die Situation zu analysieren, als Seth noch bei Ihrer Schwester lebte?«
»Ich wusste nicht, wo sie
Weitere Kostenlose Bücher