Hafen der Träume: Roman (German Edition)
wohnten.« Sie stieß die Luft hörbar aus den Lungen. Es war keine Zeit für Ausreden. Und der Mann, der sie kalten Blickes fixierte, würde ihr ohnehin nicht glauben. »Ich habe mich nie ernsthaft darum bemüht, etwas über meine Schwester herauszufinden. Ich habe ihr gelegentlich Geld geschickt, wenn sie Kontakt zu mir aufnahm und Geld verlangte. Meine Beziehung zu Gloria war stets wenig fruchtbar und wenig angenehm.«
»Herrgott, Sybill, es geht hier um einen kleinen Jungen und nicht um Ihre Geschwisterrivalität.«
»Ich hatte Angst, mich an ihn zu binden«, fuhr sie ihn aufbrausend an. »Ich habe es einmal getan, und sie hat ihn mir entzogen. Seth ist ihr Kind, nicht meines. Daran kann ich nichts ändern. Ich habe sie gefragt, ob ich ihr mit Seth helfen kann, und sie hat abgelehnt. Sie hat ihn allein aufgezogen. Meine Eltern haben sie enterbt. Meine
Mutter hat ihren Enkel nie anerkannt. Ich weiß, dass Gloria nicht einfach ist, aber sie hat es auch nicht leicht gehabt.«
Er starrte sie fassungslos an. »Ist das Ihr Ernst?« »Sie hatte nie jemand, auf den sie sich verlassen konnte«, fuhr Sybill fort. Als es an der Tür klopfte, schloss sie die Augen wieder. »Tut mir Leid, ich kann nichts essen.«
»Sie können.«
Phillip öffnete dem Kellner die Tür, ließ ihn das Tablett auf den Tisch vor dem Sofa stellen, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und schloss die Tür hinter ihm.
»Essen Sie die Suppe«, befahl er. »Sie müssen was in den Magen bekommen, sonst vertragen Sie die Medizin nicht. Meine Mutter war Ärztin.«
»Ja, gut.« Sie löffelte die Suppe bedächtig und redete sich ein, sie wäre nichts anderes als Medizin. »Vielen Dank. Sicher ist Ihnen nicht danach zumute, freundlich zu mir zu sein.«
»Es wäre unsportlich, Sie k.o. zu schlagen, wenn Sie bereits auf dem Boden liegen. Essen Sie, dann gehen wir in die zweite Runde.«
Sybill seufzte. Die spitzen Stacheln ihres Migräneschmerzes wurden stumpfer, schwächer. Jetzt kann ich damit umgehen, dachte sie. Und mit ihm. »Ich hoffe, Sie machen wenigstens den Versuch, meinen Standpunkt zu verstehen. Gloria rief mich vor ein paar Wochen an. In heller Verzweiflung, völlig außer sich. Sie sagte, man habe ihr Seth weggenommen.«
»Weggenommen?« Phillip lachte bitter. »Mir kommen die Tränen.«
»Zuerst dachte ich an Entführung, bis ich endlich ein paar Einzelheiten aus ihr rausbekam. Sie erklärte, Seth sei bei Ihrer Familie, man habe ihr das Kind weggenommen. Sie war beinahe hysterisch vor Angst, ihn nie wieder zu sehen. Sie hatte kein Geld, um den Anwalt zu
bezahlen. Sie kämpfte gegen eine ganze Familie, ein ganzes System, völlig allein und auf sich gestellt. Ich schickte ihr Geld für den Anwalt, versprach ihr zu helfen und sagte ihr, sie solle warten, bis ich Kontakt mit ihr aufnehme.«
Allmählich ließ der Schmerz weiter nach, sie griff nach einem Brötchen im Korb neben der Suppenschale und brach es. »Ich wollte mir selbst ein Bild von der Situation machen. Ich weiß, Gloria sagt nicht immer die ganze Wahrheit, und sie versteht es, die Dinge zu ihren Gunsten zu drehen. Tatsache aber bleibt, dass Seth bei Ihrer Familie ist und nicht bei seiner Mutter.«
»Gottlob.«
Sie starrte auf das Brot in ihrer Hand und fragte sich, ob sie es schaffen würde, es in den Mund zu stecken und zu kauen. »Ich weiß, dass Sie ihm ein schönes Heim bieten können, aber Gloria ist seine Mutter, Phillip. Es ist ihr Recht, ihr Kind zu behalten.«
Er beobachtete ihr Gesicht aufmerksam, hörte genau auf den Tonfall ihrer Stimme. Er wusste nicht, was stärker war, sein Zorn oder seine Verblüffung. »Sie glauben das wirklich, wie?«
Ein Hauch Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Ihre Augen waren wieder klar. Sie sah ihn unverwandt an. »Was meinen Sie damit?«
»Sie glauben, dass wir Seth Ihrer Schwester weggenommen haben. Dass wir die Situation einer armen, allein erziehenden Mutter in einer Pechsträhne ausgenutzt und ihr das Kind weggenommen haben, das sie verzweifelt zurückhaben will. Und dass sie einen Rechtsanwalt eingeschaltet hat, um ihr Recht durchzusetzen.«
»Seth ist doch bei Ihrer Familie«, entgegnete Sybill.
»Richtig. Und genau dort gehört er hin, und dort wird er bleiben. Ich nenne Ihnen zwei Fakten. Sie hat meinen Vater erpresst und Seth an ihn verkauft.«
»Ich weiß, dass Sie das glauben, aber …«
»Das sind Fakten , Sybill. Noch vor einem knappen Jahr lebte Seth völlig verwahrlost in zwei heruntergekommenen Löchern in
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