Hafen der Träume: Roman (German Edition)
seiner Freunde kennen gelernt.«
Gloria klickte sich in den Tonfall ihrer Schwester ein, passte sich geschickt an. »Wie geht es ihm?« Es gelang ihr sogar, wehmütig zu lächeln. »Hat er nach mir gefragt?«
»Es geht ihm gut.« Sybill überhörte Glorias zweite Frage und fuhr fort: »Fabelhaft, besser gesagt. Und er ist so groß geworden, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.«
Er hat ja auch gegessen wie ein Pferd, erinnerte sich Gloria, ständig wuchs er aus seinen Kleidern und Schuhen. Als hätte sie einen Geldscheißer im Keller oder so was.
»Er wusste nicht, wer ich bin.«
»Wie bitte?« Gloria griff nach dem Glas, sobald es auf den Tisch stand. »Du hast es ihm nicht gesagt?«
»Nein, habe ich nicht.« Sybill hob den Blick zu der wartenden Kellnerin. »Es dauert noch ein paar Minuten, bis wir bestellen.«
»Du hast also heimlich herumgeschnüffelt.« Gloria lachte laut und heiser. »Du überraschst mich, Syb.«
»Ich hielt es für besser, die Situation zu beobachten, bevor ich weitere Schritte in Erwägung ziehe.«
Gloria schnaubte verächtlich. »Das klingt wieder mal typisch. Mann, du hast dich nicht verändert. ›Die Situation beobachten, bevor du weitere Schritte in Erwägung ziehst‹«, äffte sie ihre Schwester affektiert nach. »Die Situation ist doch klar: Die Schweine haben mir mein Kind weggenommen. Sie drohen mir, und wer weiß, was sie ihm antun. Ich brauche Kohle, um alle Hebel in Bewegung zu setzen und ihn wiederzubekommen.«
»Ich habe dir Geld für den Anwalt geschickt«, erinnerte Sybill sie.
Gloria ließ das Eis beim Trinken gegen ihre Zähne klirren. Und die fünftausend Steine hab’ ich dringend gebraucht, dachte sie. Wie, zum Teufel, hätte sie wissen sollen, wie schnell ihr das Geld, das sie Ray abgeknöpft hatte, durch die Finger rinnen würde? Schließlich hatte sie eine Menge Ausgaben. Im Übrigen war es ihr gutes Recht, sich zur Abwechslung mal ein Vergnügen zu gönnen. Ich hätte doppelt so viel verlangen sollen, dachte sie.
Abwarten. Sie würde es von den Mistkerlen kriegen, die er aufgezogen hatte.
»Du hast das Geld doch bekommen, das ich dir für den Anwalt geschickt habe, nicht wahr, Gloria?«
Gloria nahm den nächsten tiefen Schluck. »Klar. Aber Anwälte sind Halsabschneider, das weißt du genau.
Hey!« Sie winkte der Kellnerin und zeigte auf ihr leeres Glas. »Bring mir noch einen, Schätzchen.«
»Wenn du weiter so trinkst und nichts isst, wird dir wieder übel.«
Von wegen, feixte Gloria innerlich und griff nach der Speisekarte. Ein zweites Mal würde sie sich den Finger nicht in den Hals stecken. Einmal hatte ihr gereicht. »Hey, die haben Steak Florentiner Art. Das nehm ich. Erinnerst du dich, als der Alte damals mit uns in Italien war? Mann, die scharfen Typen auf ihren heißen Öfen. Großer Gott, hatte ich Spaß mit dem Kerl, wie hieß er gleich? Carlo oder Leo oder so. Ich habe ihn mit aufs Zimmer geschmuggelt. Aber du warst ja zu prüde, um zuzusehen, und hast lieber auf dem Sofa im Wohnzimmer gepennt, während wir es die ganze Nacht getrieben haben.«
Sie griff nach dem frischen Drink und prostete Sybill zu. »Auf die Italiener.«
»Ich nehme Linguini mit Pesto und einen gemischten Salat.«
»Ich nehm das Steak, blutig.« Gloria hielt der Kellnerin die Karte hin, ohne sie dabei anzusehen. »Ohne das Grünfutter. Ist schon eine Weile her, wie Syb? Vier oder fünf Jahre?«
»Sechs«, verbesserte Sybill. »Es ist jetzt sechs Jahre her, als ich nach Hause kam und du mit Seth verschwunden warst, zusammen mit einigen meiner Wertsachen.«
»Ja, tut mir Leid. Damals habe ich tief in der Tinte gesteckt. Es ist schwer, ein Kind alleine großzuziehen. Ständig diese Geldsorgen.«
»Du hast mir nie viel über Seths Vater erzählt.«
»Na und? Alte Kamellen.« Sie zuckte gleichgültig die Schultern, schwenkte das Glas und ließ die Eiswürfel klimpern.
»Na schön, lass uns lieber über die Gegenwart sprechen.
Ich will wissen, was wirklich geschehen ist. Ich muss es wissen, um dir zu helfen und mich auf die Unterredung mit den Quinns vorzubereiten.«
Das Glas schlug hart auf den Tisch auf. »Welche Unterredung?«
»Wir haben morgen Vormittag eine Besprechung im Sozialamt, um die Probleme auf den Tisch zu bringen und die Situation zu klären. Wir müssen versuchen, zu einer Lösung zu kommen.«
»Den Teufel werd’ ich tun. Die wollen mich nur über den Tisch ziehen.«
»Schrei nicht so«, wies Sybill sie scharf zurecht. »Und hör mir zu.
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