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Hafen der Träume: Roman (German Edition)

Hafen der Träume: Roman (German Edition)

Titel: Hafen der Träume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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den Slums von Baltimore, und seine Mutter ging anschaffen.«
    »Anschaffen?«
    »Mein Gott, woher kommen Sie eigentlich? Sie ging auf den Strich. Sie ist keine Nutte mit einem Herz aus Gold, keine verzweifelte, vom Schicksal gebeutelte, unverheiratete Mutter, die alles tut, um zu überleben und ihr Kind zu ernähren. Diese Frau ging nur ihren lieben Gewohnheiten nach.«
    Sybill schüttelte den Kopf, mechanisch, von einer Seite zur anderen, wie ein Uhrpendel, obwohl ein Teil ihres Verstandes wusste, dass er die Wahrheit sagte. »Das können Sie nicht wissen.«
    »O doch, ich kann. Weil ich mit Seth zusammenlebe. Ich habe mit ihm geredet, ich habe ihm zugehört.«
    Ihre Hände waren Eisklumpen. Sie hob die Kanne, wärmte ihre Finger daran und goss langsam Tee in die Tasse. »Er ist ein kleiner Junge. Er hat es vielleicht missverstanden.«
    »Na klar. So wird’s gewesen sein. Er hat es missverstanden, wenn sie die Freier mit in die Bude schleppte, er hat es missverstanden, wenn sie völlig zugedröhnt auf dem Boden lag und er glaubte, sie wäre tot. Er hat es missverstanden, wenn sie ihn grün und blau prügelte, weil sie keinen Stoff mehr hatte und gereizt war.«
    »Sie hat ihn geschlagen.« Die Tasse stieß klirrend auf die Untertasse. »Sie hat ihn geschlagen?«
    »Sie hat ihn verprügelt. Sie hat ihm nicht gelegentlich eine Ohrfeige als umstrittene Erziehungsmaßnahme verpasst, Dr. Griffin. Sie hat ihn verprügelt. Sie hat mit Fäusten, mit einem Ledergürtel, mit dem Handrücken auf ihn eingeschlagen. Hatten Sie schon mal eine Faust im Gesicht?« Er hielt ihr seine Faust unter die
Nase. »Sehen Sie sich die an. Die Proportionen stimmen, wenn man sie mit einer erwachsenen Frau und einem kleinen Jungen von fünf oder sechs vergleicht. Mit Schnaps und Drogen im Spiel schlägt diese Faust schneller und härter zu. Ich kenn mich da aus.«
    Er nahm die Faust weg und studierte sie. »Meine Mutter war auf Smack – für den Laien: auf Heroin. Wenn sie ihren Fix nicht rechtzeitig bekam, tat man gut daran, ihr aus dem Weg zu gehen. Ich weiß, was es heißt, von einer bösartigen, miesen Nutte verprügelt zu werden.« Sein Blick flog zu Sybill. »Ihre Schwester wird nie wieder Gelegenheit haben, sich an Seth zu vergreifen.«
    »Ich … sie muss in Therapie. Ich wusste nicht … Es schien ihm gut zu gehen, als ich ihn sah. Wenn ich gewusst hätte, dass sie ihn misshandelt …«
    »Ich bin noch nicht fertig. Seth ist ein hübscher Junge, nicht wahr? Das dachten auch einige von Glorias Freiern.«
    Sybills Gesicht wurde aschgrau. »Nein.« Kopfschüttelnd wich sie zurück und kam taumelnd auf die Füße. »Nein, das glaube ich nicht. Das ist abscheulich. Unmöglich.«
    »Sie hat nichts getan, um es zu verhindern.« Sybills fahles Gesicht, ihre Zerbrechlichkeit interessierten ihn nicht mehr. Er gab es ihr, knallhart. »Sie hat keinen verdammten Finger gerührt, um ihn zu beschützen. Seth war ganz auf sich allein gestellt. Entweder wehrte er sich gegen die Kerle, oder er versteckte sich. Früher oder später wäre einer gekommen, dem er nicht entwischt wäre, der ihn aus seinem Versteck gezerrt hätte.«
    »Das ist nicht möglich. Das kann sie nicht getan haben.«
    »Sie konnte – und es kam ihr sehr gelegen, weil es ein paar zusätzliche Scheine einbrachte. Es dauerte Monate, bevor Seth die leichteste Berührung von einem von
uns ertragen konnte. Nachts hat er immer noch Albträume. Und wenn der Name seiner Mutter erwähnt wird, bricht mir das Herz, die Angst in seinen Augen ansehen zu müssen. Das ist Ihre Situation, Dr. Griffin.«
    »Gütiger Himmel. Wie können Sie erwarten, dass ich das alles akzeptiere? Dass ich glauben soll, sie wäre zu solchen Schandtaten fähig?« Sie presste die Hand ans Herz. »Ich bin mit ihr aufgewachsen. Aber Sie kenne ich erst seit einer Woche, und Sie erwarten, dass ich Ihnen diese Horrorgeschichte abnehme, diese Ungeheuerlichkeit?«
    »Ich habe den Eindruck, Sie glauben sie jetzt schon«, sagte er nach einer Pause. »Ich denke, Sie sind klug genug und, sagen wir mal, realistisch genug, um die Wahrheit zu erkennen.«
    Sybill packte das Grauen. »Wenn das die Wahrheit ist, wieso sind die Behörden nicht eingeschritten? Wieso hat man dem Kind nicht geholfen?«
    »Sybill, haben Sie tatsächlich auf diesem Planeten gelebt ohne zu wissen, wie sich das Leben auf der Straße abspielt? Wie viele Seths es da draußen gibt? Das System funktioniert gelegentlich für ein paar Auserwählte, für die

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