Hafenmord - ein Rügen-Krimi
nicht. Von der erschütternden Verbindung zu Claudia und Maria hörte er zum ersten Mal. Als gäbe es bei all dem nicht genug Erschütterndes.
Gunnar hatte zunächst gar nicht ans Telefon gehen wollen, aber der Ärger über einen rücksichtslosen nächtlichen Anrufer war stärker gewesen. Mit einigen saftigen Kraftausdrücken auf der Zunge nahm er den Hörer ab.
»Ich bin eine alte Freundin der Familie«, sagte eine leise Frauenstimme. »Und ich würde Ihre Nachtruhe nicht stören, wenn es nicht sehr wichtig wäre.«
Gunnar wollte sofort wieder auflegen.
»Ich weiß, wer Ihre Frau entführt und gequält hat«, fuhr die Frauenstimme fort. »Maria. Sie nahm sich 1995 das Leben, nachdem sie sich in der Gewalt eines Verbrechers befunden hatte.«
Gunnar schnappte nach Luft. »Wer sind Sie und wie kommen Sie darauf …?«
»Eine sehr gute, alte Freundin. Alles andere spielt keine Rolle. Vertrauen Sie mir. Fahren Sie nach Sassnitz, noch heute Nacht. Im Hafen hinter der Fischfabrik stehen mehrere verlassene Gebäude. Im hintersten gibt es eine Werkstatt – im Keller darunter finden Sie einen Mann vor: gefesselt und geknebelt. Er ist heute jemandem begegnet, der einige Fragen an ihn hatte. Das habe ich zufällig in Erfahrung gebracht. Sie sollten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Fragen Sie ihn, was er mit Maria gemacht und warum er Ihre Ehe zerstört hat.«
»Warum …?«
»Er hat es verdient. Sie haben es verdient. Das ist nur gerecht.« Dann klackte es in der Leitung.
Gunnar schüttelte den Kopf, als wollte er einen wirren Traum abschütteln. Aber es gelang ihm nicht. Eine Stunde später ging er schlafen. Keine Stunde darauf stand er wieder auf und machte sich auf den Weg, obwohl er sein Vorhaben für völlig verrückt und zudem riskant hielt. Er konnte nicht ausschließen, dass ihm jemand einen bösen Streich spielte.
Andererseits … ja, wenn die Frau recht hatte, wäre die Gelegenheit einmalig. Er hat es verdient, ich habe es verdient. Vielleicht ist dies die Möglichkeit, alles zu einem Ende zu bringen. An Mord hatte er in dem Moment gar nicht gedacht. Fragen stellen, Antworten verlangen, die Vergangenheitein letztes Mal hochkochen und den Brief dann endlich vergessen können. Sonst was hätte er dafür gegeben. Aber es hatte wieder nicht geklappt.
Gunnar setzte sich an die zerkratzte Werkbank und nahm sich aus einer Schublade Block und Stift. Ohne ein einziges Mal abzusetzen, schrieb er Marias Abschiedsbrief nieder.
Er benötigte keine zehn Minuten, riss die Seiten vom Block, faltete sie und verstaute sie in seiner Hosentasche. Kurz darauf klopfte es an der Tür.
»Die Polizei will dich noch einmal sprechen«, sagte seine Frau mit gepresster Stimme.
Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzusehen.
Die Haarprobe war ein Treffer gewesen. Gunnar hatte sich ohne weitere Gegenwehr oder fadenscheinige Diskussionen nach Bergen mitnehmen lassen. Seine Schweigsamkeit und der nachdenkliche, fast starre Gesichtsausdruck standen in deutlichem Gegensatz zu seinem anfänglichen Verhalten.
Romy hatte vorgehabt, ihm das Video mit Veras Ansprache vorzuspielen, aber als sie die Starttaste betätigen wollte, sah Bernburg sie an und schüttelte den Kopf.
»Seit damals verfolgt mich der Brief«, begann er. »Natürlich gab es ihn. Ich habe ihn gelesen, vernichtet und geleugnet. Und er lässt mich nicht los. Immer noch nicht.« Er verschränkte seine Hände. »Ja – Vera hat mich angerufen, ohne dass mir die Verbindung zu Maria bewusst war, und sie war glaubwürdig und überzeugend. Ich konnte natürlich nicht widerstehen und wollte den Mann sehen, der mein und Marias Leben zerstört hat. Und ich wollte ihm Fragen stellen. An etwas anderes habe ich nicht gedacht.«
»Wann sind Sie dort angekommen?«
»Es war sehr früh, vielleicht halb sechs Uhr, das weiß ich nicht so genau«, antwortete Gunnar. »Kai Richardt war ineinem üblen Zustand. Ich dachte zunächst, er wäre längst tot … Aber plötzlich schlug er die Augen auf. Er war sichtlich erleichtert, mich zu sehen, weil er annahm, seine Rettung stünde bevor. Ich habe ihm den Knebel abgenommen und ihm etwas zu trinken gegeben.«
»Sie hatten vorsorglich ein Getränk dabei?«, fragte Romy verwundert.
»Oben in der Werkstatt stand eine Flasche. Ich habe sie geholt, weil er solchen Durst hatte und kaum sprechen konnte, so trocken war sein Hals.«
Romy starrte ihn an.
»Ja, ich weiß, das klingt merkwürdig«, gab Gunnar zu. »Aber … so war es. Irgendwie
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