Hafenmord - ein Rügen-Krimi
zärtlichen Berührungen und den lasziven Klang ihrer Stimme, wenn sie sich geliebt hatten und sie seinen Namen flüsterte, dass es ihm einen Schauer über den Rücken jagte – auch noch nach Jahren.
Er wusste immer noch, wie ihr Haar roch, wenn sie halbe Tage im Garten verbracht hatte oder mit den Kindern in Zittvitz am Bodden gewesen war, und sah immer noch vor sich, wie sie die Stirn runzelte, wenn sie die Aufsätze ihrer Schülerinnen und Schüler korrigierte. Anna war Deutschlehrerin am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium gewesen und hatte ihren Beruf geliebt. Wahrscheinlich mehr als mich, dachte Kasper, denn Lehrerin war sie immer noch, soweit er informiert war.
Manchmal verfluchte er sein gutes Gedächtnis. Es ließ ihn auch jetzt nicht schlafen.
Ein alter Vermisstenfall. Vielleicht erinnerte er sich so besonders gut daran, weil er in den gleichen Zeitraum fiel wie Annas Entscheidung, ihn zu verlassen. Seine plötzliche Einsamkeit und der unerträgliche Schmerz, der nicht abebben wollte, hatten seine Sinne zusätzlich geschärft.
Kasper rührte braunen Zucker in den Tee und trank zwei kleine Schlucke. Er war sicher, dass das Skelett im Sassnitzer Hafen einer jungen Frau gehörte, nach der in jenem Spätsommer gefahndet worden war, auch auf Rügen. Deren Großvater auf der Insel lebte und seinerzeit fassungslos und feindselig zugleich auf die Polizisten reagiert hatte. Und der allen Grund dazu gehabt hatte, ihnen nicht über den Weg zu trauen.
Kasper trank seinen Tee aus. Dann ging er unter die Dusche. Eine Viertelstunde später machte er sich auf den Weg ins Kommissariat.
Boxen macht den Kopf frei. Völlige Konzentration auf den Augenblick. Kein Abschweifen und Hadern mit dem Gestern, kein Abdriften ins Morgen. Der Ring und die Begegnung mit dem Gegner im Hier und Jetzt. Nur das zählte.
»Sonst ist die Nase schneller krumm, als ihr gucken könnt!«, erklärte Romy den vier fünfzehn- und sechzehnjährigen Jugendlichen, die an diesem frühen Morgen den Weg in die kleine Sporthalle gefunden und sich gemeinsam mit ihr aufgewärmt hatten.
»Okay, es geht weiter mit Schattenboxen. Achtet auf die technisch saubere Ausführung der Schlagkombinationen. Lieber langsamer, aber dafür korrekt.«
Sie boxte seit ihrer Polizeiausbildung. Ihr Vater war fast in Ohnmacht gefallen, als er davon erfuhr, und ihre Mutter hatte auch nicht gerade begeistert gewirkt, eher brüskiert und genervt, dass die Tochter mal wieder derart aus der Reihe tanzte und für familiären Unfrieden sorgte. Abgesehen davon, dass das Boxen ihre Reaktionsschnelligkeit sowie ein gutes Auge schulte und körperliche Fitness und Kampferfahrung wichtige Aspekte ihres Berufes waren, hatte die Abwehr ihrer Eltern den Sport für Romy umso interessanter gemacht.
Die Idee, mit Jugendlichen zu trainieren, vornehmlich jugendlichen Straftätern und sogenannten Problemkids, hatte sie schon in Köln in die Tat umgesetzt. Seit einigen Monaten engagierte sie sich im alten E-Werk in Sassnitz, in dem seit der umfangreichen Sanierung die unterschiedlichsten Jugendprojekte realisiert wurden, und bot Boxtraining an.
Anfangs war sie bestaunt, ausgelacht und angegafft worden. Das kannte sie schon: Sie war nicht nur eine Frau, noch dazu mit südländischem Aussehen, sondern gerade mal eins fünfundsechzig groß und höchstens achtundfünfzig Kilo schwer. Allein damit entsprach sie nicht unbedingt den Vorstellungen der Jugendlichen.
»Klitschko kann ich euch nicht bieten«, hatte sie gesagt. »Ich bin Romy, und meine Rechte ist ganz ordentlich. Davon abgesehen: Ihr lernt bei mir garantiert nicht, wie ihr wild zuschlagt und euren Gegner fertigmacht. Ihr lernt bei mir, Regeln einzuhalten und Respekt vor dem anderen zu zeigen – hier im Ring und vielleicht auch außerhalb.«
Das Motto hatte auch nicht gerade für Begeisterungsstürme gesorgt, doch mittlerweile nahmen regelmäßig zwischen zwei und acht jungen Leuten am Training teil. Zu einem Probekampf forderte sie niemand mehr heraus, seitdem sie Daniel – zwanzig Jahre alt, hundert Kilo schwer, große Klappe und tendenziell aggressiv – in der zweiten Runde auf die Bretter geschickt hatte. Nicht um ihn zu blamieren und vor den anderen kleinzumachen, sondern weil ihr nichts anderes übrig geblieben war. Der Junge hatte es darauf angelegt, sie aus dem Ring zu prügeln.
Daniel hatte sich wochenlang nicht sehen lassen, tauchte aber neuerdings hin und wieder auf, um aus sicherer Entfernung zuzusehen. Romy schätzte,
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