Hafenmord - ein Rügen-Krimi
konnte, dass Kai der Täter und Tim von der gleichen Überzeugung erfüllt gewesen war wie sie, als er beschloss, selbst für die folgerichtigen Konsequenzen zu sorgen. Es war leicht, Selbstjustiz abzulehnen, womöglich moralisch zutiefst empört dagegen zu wettern, wenn man nicht betroffen war. Mirjam war zutiefst dankbar, dass sie vor diesem Mann nie wieder Angst haben musste.
Sie hatte ihn vor einigen Wochen in Vaschwitz auf Rügen wiedergesehen, ohne in diesem Augenblick zu ahnen, dass es ein Wiedersehen war – Mitte März, bei einer Musical-Aufführung in der Kunstscheune, zu der Ben sie eingeladen hatte. Mirjam wusste nicht, dass der Mann in der Reihe hinter ihr Kai Richardt war, geschweige denn, dass er ihr Entführer und Peiniger gewesen war: Sie registrierte einen gutaussehenden Mann, der ihr einen langen, prüfenden Blick zuwarf, als sie sich setzte und kurz über die Schulter sah. Die kleine zierliche Frau neben ihm war auffallend blass, und ihre Miene ließ nicht darauf schließen, dass sie sich auf die Aufführung freute.
Mirjam erinnerte sich lebhaft, wie sie gerade noch amüsiert überlegt hatte, dass das Paar ganz so wirkte, als sei es sich bei der Freizeitgestaltung nicht einig gewesen. Kurz darauf hörte sie, wie der Mann tief durchatmete und etwas zu seiner Frau sagte – sehr leise und drängend. Seine Worte klangen wie eine Ermahnung oder eine Aufforderung und waren von winzigen Zischlauten begleitet, die ihr seltsam bekannt vorkamen.
Im nächsten Moment zog sich Mirjams Inneres wie schockgefroren zusammen, und ihr Atem stockte, als würde jemand die Hände um ihren Hals legen. Oder um ihr Herz. Ihr Atemzentrum. Sie versuchte, gleichmäßig und ruhig weiterzuatmen – wie sie es vor Jahren gelernt hatte. Panikattacken hatte sie schon sehr lange nicht mehr durchleiden müssen. So lange, dass die leise Hoffnung in ihr aufgekeimt war, sie könnten sich für immer verabschiedet haben. Eine fatale Fehleinschätzung. Eine leise, unangenehm klingende Männerstimme genügte, um sie völlig aus dem Gleichgewicht zu werfen.
In der Pause verließen sie die Veranstaltung. Ben war besorgt. Mit Recht. Die Stimme barg eine Erinnerung in sich. Sie verfolgte Mirjam bis in den Schlaf hinein und beherrschte ihre Träume. Am nächsten Morgen erwachte sie mit der festen Überzeugung, ihrem Entführer begegnet zu sein. Schwachsinn, schimpfte sie sich selbst. Völliger Schwachsinn! Nach mehreren halbdurchwachten Nächten und zwei weiteren Panikattacken ließ sie sich einen Termin bei ihrem Therapeuten geben.
Die Sitzung tat ihr gut, aber die Überzeugung blieb. Mehr noch: Sie wusste, dass der Verdacht sie nie wieder loslassen würde, und die Vorstellung, dass ihr Entführer vielleicht irgendwo auf Rügen lebte und sie einander immer wieder über den Weg laufen konnten, schnitt ihr Herz mit einer Schärfe ein, als läge die Tat kaum vier Wochen zurück.
Er hat gewonnen, dachte Mirjam, als sie die Praxis verließ. Nach fünfeinhalb Jahren hat er immer noch und immer wieder Macht über mich.
»Du wirst mich nie vergessen«, hatte er damals geflüstert. Es waren seine letzten Worte gewesen, bevor die Tabletten gewirkt hatten.
Ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, fuhr sie nicht zur Arbeit, sondern machte einen Umweg über den Knieperdamm in Richtung Heinrich-Heine-Ring. Erst als sie vor Tims Laden stand, wurde ihr bewusst, was sie tat. Sie wollte sich abwenden, aber er hatte sie schon gesehen und bat sie herein.
Seit ihrer Trennung hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sie hatte manchmal in der Zeitung von ihm gelesen – auf der Sportseite – und sich gefreut, dass es beruflich so gut für ihn lief. Als sie in seine Augen blickte, spürte sie, dass es zwischen ihnen keinen Raum für oberflächliches Geplänkel oder Ausweichmanöver gab, und nur deswegen war sie hier.
»Ich bin ihm begegnet«, sagte sie leise, kaum dass sie einander verlegen begrüßt hatten.
Er wusste sofort, wen sie meinte. »Erzähl«, erwiderte er mit einer Selbstverständlichkeit, die sie zutiefst berührte.
Mirjam beschrieb die Situation und den Mann, sein Aussehen, seine Art sowie ihre Reaktion auf seine Stimme, und je länger und eingehender sie redete, desto nachdenklicher sah Tim aus. Als sie schließlich schwieg, schüttelte er langsam den Kopf.
»Merkwürdig«, meinte er. »Irgendwie …« Er fasste nach ihrem Arm. »Komm mal mit.«
Sie gingen in sein kleines Büro. Der Schreibtisch war mit Papierkram und Fotos
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