Hafenmord - ein Rügen-Krimi
seinen Platz gefunden, und meinen macht mir niemand streitig.
Sie saß häufig ganz still auf der windgeschützten Terrasse, an kalten Tagen in eine dicke Decke gehüllt und mit Fäustlingen und Mütze geschützt, und lauschte den Vögeln oder beobachtete ihren Flug. Der Blick auf den Bodden ersetzte nicht das Schauen am Meer, aber auch hier gab es dieses besondere Licht der Insel, das den Geist wach und klar machte. Die Nachbarn zur Rechten hatten zwei kleine Ponys im Garten, zur Linken wohnten die Richardts: die zarte Frau mit den kleinen Kindern, der große schöne Mann – kraftstrotzend, erfolgreich. Eine Bilderbuchfamilie. Bis vor kurzem.
Erna hatte in der Ostsee-Zeitung gelesen, dass er erschlagen worden war. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Die Leute redeten, wie ihre Freundin aus Bergen erzählt hatte, dass es ein Neider gewesen sein musste – jemand, deres nicht ertragen hatte, dass dieser strahlende Mann alles hatte, was man sich fürs Leben wünschen konnte: Erfolg, Geld, Ansehen, eine attraktive Frau und gesunde Kinder. Anders konnte Erna sich das auch nicht erklären.
Am Sonntagabend hatte man ihn hinter der Fischfabrik im Hafen gefunden. Samstagmittag hatte Erna noch die Frühlingssonne auf der Terrasse genossen und die Kinder im Garten spielen gehört. Später war es so still geworden, dass sie eingenickt war. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die Augen wieder aufschlug. Sie reckte sich und sah zu den Richardts hinüber. Und entdeckte plötzlich etwas Seltsames.
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie sah. Vera Richardt war aufs Dach geklettert und schwang sich von dort über die Balkonbrüstung – geschickt und anmutig wie eine Tänzerin. Dann warf sie einen Blick in die Runde, worauf Erna ihren Kopf eilig einzog – warum, wusste sie nicht zu sagen. Schließlich schob Frau Richardt die Balkontür auf und verschwand im Inneren des Dachzimmers.
Vielleicht hat sie den Schlüssel vergessen, hatte Erna überlegt. So was konnte schon mal passieren. Ihr Sohn hatte für diesen Fall immer einen Ersatz in der Garage liegen – in einer Tabakdose, die zwischen schmierigen Lappen in einem Putzeimer versteckt war.
Aber die Kinder waren zu Hause, war ihr nächster Gedanke gewesen. Sie waren so groß, dass sie die Tür öffnen konnten. Vielleicht hatten sie die Klingel nicht gehört. Oder es gab einen ganz anderen Grund – ein verschobener Ziegel zum Beispiel, so dass es nun hereinregnete.
Vera Richardt war keine Frau, die auf dem Dach herumkletterte oder handwerklich tätig wurde. Er werkelte gern, wenn er zu Hause war, und sie sah man ab und zu im Garten – ja, aber sonst …
Erna sprach mit niemandem über ihre Beobachtung. Sie war nicht so wichtig. Vielleicht wurde sie allmählich doch etwas mehr als schusselig. Und das musste man ja niemandem auf die Nase binden.
9
Die Schwäne sangen tatsächlich. Steffen hatte angenommen, Tim hätte ihm einen Bären aufgebunden. So wie er den Drigge-Vorschlag nicht hundertprozentig ernst genommen hatte. Aber Tim hatte ihn sogar abgeholt, und Steffen musste seinen Wagen stehen lassen.
»So unauffällig wie möglich«, meinte er, und Steffen hatte sich eine Erwiderung gespart.
Was sollte er auch sagen? Tim wollte ihn in Sicherheit bringen, weil er ihn entweder immer noch für den Mörder hielt und darum schützen wollte oder es selbst gewesen war und nun befürchtete, dass Steffen bei weiteren Nachforschungen ins Visier der Polizei geraten könnte. So einfach war das.
»Sie überprüfen alles Mögliche«, hatte er später noch hinzugefügt, als sie bereits über die Brücke gefahren waren. »Auch Telefonverbindungen und den ganzen Kram. Vergiss nicht, dass du der anonyme Anrufer warst.«
»Nein, vergesse ich nicht.«
Der kleine Bungalow befand sich am äußeren Rand der Siedlung: ein beschauliches Gartenidyll, wie Steffen es gar nicht mochte. Er würde hier mehr Ruhe finden, als ihm lieb war. Immerhin war die Ausstattung erfreulich: Radio und Fernseher, moderne Küchenzeile und Duschbad. Der Wohnraum mit der abgetrennten Schlafecke war gemütlich, und die üblichen Bilder von Schiffen und Naturlandschaften ließen sich gut ertragen. Es gab sogar einen Kamin.
Als Tim aufgebrochen war, unternahm Steffen einen ersten Erkundungsspaziergang – zum Strelasund, wo kleine Boote träge auf dem Wasser schaukelten und Dutzende vonSchwänen von einer Bucht in die nächste schwammen. Singend und schnarrend wie Wale. Ein
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