Hafenweihnacht
er denn dann in Lindau wollte. Er konnte sich jedoch zurückhalten und überließ Lydia diesen seltsamen Vogel.
»Was genau kann man darunter verstehen?«, fragte sie interessiert.
»Mhm, mhm … was versteht man darunter? Nun, das ist nicht einfach zu erklären … ha … was kann man darunter verstehen? … Ich analysiere Strukturen und erarbeite Konzepte, um Abläufe effizienter zu machen.«
Lydia Naber lächelte ihn an. »Oh, das klingt interessant.
Und hier in Lindau finden Sie nun Entspannung und Ruhe für Ihre Arbeit, können gut nachdenken, beim Blick hinunter in den Hafen und über den See hinweg zu den Bergen. Die Weite und die Begrenzung in einem – das ist der rechte Humus für Kreative.«
Dr. Caspar Bleises Körperaktivität erfuhr eine Steigerung. Der hyperaktive Körper konnte nicht verbergen, wie sehr ihm direkter Blickkontakt unangenehm war. Sobald er einen der beiden ansah, zog ein breites, unnatürliches Grinsen auf seinem Gesicht auf, das unvermittelt einem ernsten Gesichtsausdruck wich, der dann abrupt ins Ängstliche glitt, um erneut von einem Grinsen hinweggewischt zu werden. Spätestens dann sah Dr. Bleise zu Boden, an die Wand, oder ins Leere. Lydia Naber war es beinahe peinlich, ihm ins Gesicht zu blicken. Mit diesem Zeugen war nicht viel anzufangen.
Endlich sprach er wieder. »Mhm, mhm … nein. Es ist anders, ganz anderes … der Blick hier aus dem Fenster, das ist sozusagen meine Arbeit.«
Lydia sah kurz zu Schielin. »Der Blick hier aus dem Fenster?«
»Ja … der«, sagte er etwas verlegen.
»Effizienzmanagement?«, fragte sie.
»Ja. Sie müssen den Begriff Effizienz in größeren Zusammenhängen denken. Es geht bei meiner, besser gesagt bei unserer Tätigkeit, denn ich habe noch einige Mitarbeiter, es geht dabei um die Beratung großer Firmen oder auch um Hilfestellung für Kommunen, insbesondere bei der fordernden Aufgabe, ihre Städte und Kreise zukunftsfähig weiterzuentwickeln.«
Lydia Naber lächelte schal. »Na, ob Sie da hier in Lindau richtig sind, weiß ich nicht so recht. Sie kommen aus …?«
»Bad Homburg.«
»Bad Homburg … sehr schön … und Sie wissen es vielleicht nicht, also hier in Lindau … Sie haben den Bahnhof ja sicher schon gesehen …«
Dr. Caspar Bleise beugte sich über den Tisch und senkte seine Stimme, als er sie unterbrach. »Ich weiß, ich weiß … genau deswegen bin ich ja hier.«
»Bahnhof?«, fragte Lydia Naber und sprach nun auch leiser.
Bleise flüsterte nun. »Ja. Ich dürfte es ja gar nicht sagen, aber Sie sind ja … Geheimnisträger, nicht wahr?« Er warf Schielin einen kontrollierenden Blick zu, der ihm eine nickende Bestätigung für den Geheimnisträger gab. Es interessierte ihn nun schon, was ein Effizienzmanager hier in Sachen Bahnhof zu suchen hatte.
»Ich, also wir, also mein Institut, wir erarbeiten ein Gesamtkonzept für die Insel.«
»Oh! Ein Gesamtkonzept … für die Insel«, wiederholte Lydia Naber überrascht, »bislang ging ich davon aus, dass unsere Lindauer Insel als solche schon Gesamtkonzept genug sei.«
Bleise winkte aufgeregt und lehnte sich mit ablehnendem Gehabe zurück. »Veraltet, nicht mehr konkurrenzfähig und in keiner Weise effektiv.«
»Das könnte man zu allem Möglichen sagen, aber was meinen Sie damit konkret?«
Bleise holte Luft. »Es ist so. Nachdem wir ja in einer Gesellschaft leben, in der alle nicht nur mitreden, sondern auch mitentscheiden wollen, ist ein gewisses Machtvakuum entstanden. Wenn ein Bürgermeister, ein Landrat, eine Landrätin eine Entscheidung trifft, dann ist sie persönlich angreifbar und wir alle wissen – es gibt keine Entscheidung, die nicht Gegnerschaft hätte. Wir sehen unsere Aufgabe primär darin, diese für Entscheidungsträger sehr belastende Situation aufzulösen, indem wir – und das ist vor allem in Kommunen wichtig – die allfälligen Entscheidungen entpersonalisieren. Wir liefern Studien, Gutachten, Entwicklungspläne, Vorlagen für Bürgerentscheide, Rohkonzepte, et cetera, et cetera … und nicht zuletzt eine klare Entscheidungsausrichtung basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ich bin hier und verschaffe mir gerade ein eigenes Bild. Wir wollen dieser wunderschönen Stadt Hilfestellung geben, sich in eine lebenswerte und ökonomisch stabile Zukunft zu entwickeln. Sehen Sie«, er wendete sich zum Fenster und sah hinunter zum Leuchtturm, »alle reden vom Bahnhof und dabei geht doch der Blick für das Ganze verloren, dieser Hafen … man
Weitere Kostenlose Bücher