Hafenweihnacht
Ansprechpartner, wie er wissen müsse, und er solle sich doch an die dafür verantwortlichen Stellen wenden. Weiterhin könne er, der Verwaltungschef, sich nicht vorstellen, dass es sonderliche Probleme bereiten würde, eine kleine Tabelle mit den entsprechenden Zahlen zu befüllen. Man solle sich nur vorstellen, jeder Dienststellenleiter würde beim Präsidium anrufen mit derlei Ansinnen, es entstünde Chaos.
Kimmel hatten die letzten Sätze beruhigt. Vor allem der Begriff Chaos hatte ihn beruhigt. Er stellte sich vor, wie alle Dienststellenleiter zum Telefonhörer griffen und in Kempten anriefen, an irgendeiner der vielen Nebenstellen, die es dort gab. Und wie daraufhin alles in Chaos versank, während draußen auf den Dienststellen alle in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen konnten. Er hörte gar nicht mehr zu, was dieser Mensch zu ihm sprach, sondern sonnte sich in den wohltuenden, endzeitlichen Fantasien, die sich im Geiste vor ihm abspielten.
Der Satz »Ich denke wir haben uns verstanden« holte ihn wieder in sein Büro zurück, denn das war ein Satz, der von ihm stammte, den er selbst verwendete, selten zwar, aber er wusste, wie er gemeint war. Es handelte sich nicht um Worte, die als solche einen Sinn ergeben sollten, sondern viel mehr um einen Laut: Ich denke, wir haben uns verstanden. Es war eine rein psychologisch motivierte Formulierung, die je nachdem, wer Sender oder Empfänger einer solchen Botschaft war, als Klarstellung, Provokation oder Dreistigkeit gelten durfte. Kimmel empfand sie als bodenlose Dreistigkeit und seine Stimme klang gefährlich ruhig, als er antwortete: »Nicht unbedingt, aber man kann das ja noch einmal an anderer Stelle erörtern.« Entgegen seiner inneren Gemütsverfassung ließ er seine Stimme freundlich klingen. »Es tut mir leid, Kollege. Aber gerade kommt ein Termin herein.« Er wünschte einen guten Tag und legte auf.
Das hatte er von Robert Funk gelernt, der vor einiger Zeit auf einem Zeitmanagementlehrgang gewesen war. Eigentlich hatte Kimmel die Plätze, die ihm dafür zur Verfügung standen, nicht belegen wollen. Erstens hielt er den Lehrgangsinhalt für unsinnig, denn Kriminalbeamte gingen auf Spurensicherungslehrgänge, Lehrgänge über psychologische Gesprächsführung in Vernehmungen, oder auf Computerkurse. Aber Zeitmanagement? Davon hatte er nichts gehalten.
Bedauerlicherweise hatte er das in einem seltenen Anflug transparenten Führungsstils in einer ihrer Besprechungen zur Diskussion gestellt, und Robert Funk wollte tatsächlich unbedingt nach Würzburg, wo das stattfand. Kimmel hatte gleich den Eindruck gehabt, dass mehr der Veranstaltungsort als das Thema für Robert Funk das ausschlaggebende Moment gewesen war.
Doch tatsächlich hatte er einige interessante Informationen von dort mitgebracht. Eine davon war die elegante Beendung eines Telefonats.
*
Schielin hatte mit Lydia Naber telefoniert, die gemeinsam mit Robert Funk bei einer Zeugin im Hotel Helvetia saß. Er spürte sofort, dass sein Anruf ungelegen gekommen war und in wenigen knappen Worten hatten sie vereinbart, dass er sie bei den Befragungen im Hafen unterstützen werde.
Er parkte verbotswidrig in der Ludwigstraße. Anders wäre es auch nicht möglich gewesen, denn seit dem Vormittag erinnerte die Hafenmeile an das Treiben eines Bienenschlags. Im Hafen selbst war kein Durchkommen. Lieferwagen und Anhänger dominierten das Geschehen. Die Buden der Hafenweihnacht wurden mit Waren bestückt und es war, als gelänge es alleine der dadurch entstandenen Geräuschkulisse, die Kälte aus den Mauern zu verbannen. Motoren blubberten einen gelassenen Bass, darüber klapperte, schepperte, zischte und kreischte es, dazu Rufen, Lachen und ab und zu ein lauter Fluch. Es weihnachtete sehr und der aufgeräumten Stimmung war nicht annähernd anzumerken, dass an diesem Ort ein Mensch vor wenigen Stunden sein Leben auf gewaltsame Weise verloren hatte. Schielin verzichtete auf einen längeren Ratsch im Teebazar und nahm nur eine Packung Lindauer Powerwiese. Dann begann er seine Befragung im Hotel Bayerischer Hof, wo man bemüht war zu helfen, doch die wenigsten Beschäftigten hatten in der Nacht Dienst gehabt. Die Neuigkeit vom Hafentoten war inzwischen keine mehr – und auch unter den Gästen war es Gesprächsthema. Schielin stellte aber fest, dass die Erregung, die in den Räumen des Hotels greifbar wurde, ihren Grund in der Eröffnung der Hafenweihnacht hatte und nicht mit dem Toten zusammenhing.
Die Hafenweihnacht
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