Hafenweihnacht
einen Autoschlüssel sensibilisiert. Als Lydia herüberkam und ihn fragte, ob er in dem chaotischen Regal vielleicht schon ein paar Bankunterlagen hatte finden können, brachte ihn das für einen Augenblick aus dem Konzept. Bankunterlagen? Nein, die waren ihm noch nicht untergekommen. Sie fixierte die Stapel, die vor ihr lagen, und machte sich auf die Suche. Bald darauf knurrte sie zufrieden, zog einige Packen Papier unter Büchern hervor und fing an durchzublättern und diagonal zu lesen. Ein langer, anerkennender Pfiff ließ Schielin innehalten. Sie hatte wohl etwas Interessantes entdeckt.
»Mein lieber Freund. Ich würde mal sagen, unser Toter hat mit der Bude hier auf äußerst angestrengte Weise Understatement betrieben, wenn man sich dies hier so anschaut und dann die Zahlen auf diesen Kontoauszügen liest …
Diskrepanz, Diskrepanz. Der Typ hätte so ärmlich wirklich nicht leben brauchen.«
Robert Funk sah vom Gang herein und wartete auf die Zahl.
»Zwei Banken und ein Barvermögen von etwa vierhunderttausend Euro.«
Robert Funk nickte anerkennend und suchte weiter.
Schielin rief »Aktuell?« und hielt wieder Ausschau nach einem Autoschlüssel.
»Sehr aktuell. Die Auszüge sind vom letzten Monat und hier habe ich die letzte Abrechnung der Kreditkarte. Dieser Jochen Drohst hatte eine EC-Karte und eine Kreditkarte. Ein braver Junge. Damit lässt sich was anfangen und es wird spannend sein herauszubekommen, woher er die ganze Kohle hat.«
Schielin war derweil auf eine Visitenkarte gestoßen. Sie trug den Namen von Jochen Drohst, war aber eine Firmenkreditkarte. »Hab ich mir schon gedacht, dass das so ein Computerfreak war. Er war Chief Technology Officer in einer Firma namens Business Intelligence Systems – klingt immer wieder gut, diese anglistischen Titel. Mhm. Und diese BIS hat ihren Sitz in Bregenz.«
Lydia Naber und Robert Funk konnten daran nichts finden, wogegen Schielins Stimme verwundert geklungen hatte, so als hätte er diese Firma gerade in Bregenz nicht vermutet.
Das wichtigere Merkmal der Visitenkarte bestand in dem Foto, das in hochwertigem Druck aufgebracht war. Schielin hielt das Kärtchen hoch und sagte: »Es ist unser Mann, das steht nun zweifelsfrei fest – der Tote aus dem Hafen ist Jochen Drohst.«
Die weitere Suche förderte weder ein Handy noch Geldbörse, Kreditkarten oder Autoschlüssel zutage. Wenigstens hatten sie einige Informationen über das Opfer Jochen Drohst erlangen können, um die nächsten Ermittlungsschritte zu betreiben.
Lydia Naber sah sich skeptisch um. In jeder Wohnung gab es Fotografien – Familienfotos, Freunde, Urlaube, Feste. Nur hier in dieser Wohnung war das Ergebnis ihrer Suche erschreckend mager geblieben. In einem der Kartons fand sie eine Aufnahme in grellen Farben. Vermutlich auf einem Fotodrucker ausgedruckt. Einer der Männer in der Gruppe war Jochen Drohst. So viel war zu erkennen. Er stand am Rande einer Gruppe von vier Männern und drei Frauen. Sie sah auf der Rückseite nach, ob etwas dazu vermerkt oder notiert war. Fehlanzeige. Sie zögerte kurz, packte den Ausdruck dann zu den anderen Unterlagen, die sie mitnehmen würde, und war froh aus diesen tristen Räumen herauszukommen.
Es begann schon zu dämmern, als sie die Wohnungstüre abschlossen und hinaus in die Linggstraße traten. Sofort klammerte sich die Kälte an den Körper. Nach wie vor zogen Weihnachtshungrige aus dem Zentrum der Insel dem Hafen zu. Robert Funk und Lydia fuhren direkt zur Dienststelle. Schielin wollte noch mal den Tatort in Augenschein nehmen und nahm einen kleinen Umweg in Kauf, um dem Gedränge aus dem Wege zu gehen, das am Kreuzungspunkt von Barfüßerplatz und Brettermarkt entstanden war und das eine Ahnung von dem vermittelte, was sich derzeit im Hafen abspielte. Er ging am Stadttheater vorbei in Richtung Segelhafen und von dort in den südöstlichen Seehafenbereich. Sein Wunsch nach einigen Augenblicken Einsamkeit konnte auch auf diesem abseits liegenden Weg nicht erfüllt werden. Die Löwenmole war gerade jetzt ein begehrter Standort für viele, die den Blick über das Hafenbecken hinweg zur Lindauer Prachtmeile genießen wollten. Er blieb oben auf der Römerbastion stehen und sah von dort hinüber zum Steg. Es musste doch einen Grund gegeben haben, einen guten Grund, dessentwegen Jochen Drohst in der nasskalten Nacht unterwegs gewesen war? Ohne Geld, ohne Handy und nur mit dem Wohnungsschlüssel in der Tasche. Von wo konnte er gekommen sein? Lydias
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