Hafenweihnacht
Turnschuhe. Einer jener Übriggebliebenen, die mit dieser Kombination eine gewisse Widerborstigkeit und Coolness demonstrieren wollte. Die braunen Haare hingen glatt auf dem Schädel, und dort, wo ein ungepflegter Bart die Gesichtshaut freigab, waren rote Flecken zu sehen. Lydia Naber hatte das im hellen Licht noch feststellen können und schloss nicht auf die Kälte, was die Ursache dieser Flecken anging.
Ohne dass jemand im Raum von ihm begrüßt worden wäre, nahm die Vorstellung ihren Anfang. Plötzlich sprach er los. Seine ersten Worte setzten die Zuhörerschaft darüber in Kenntnis, es bei ihm mit einem erfahrenen und berufenen Hellfühler zu tun zu haben. Das Wort Hellfühler elektrisierte Lydia, der eine solche Berufsbezeichnung oder Tätigkeitsumschreibung bisher fremd gewesen war. Bei den Umsitzenden stellten sie jedoch ein zustimmendwissendes Nicken fest. Dann kam der Beamer zum Einsatz und warf auf lila und rosa changierenden Hintergrund die Worte: Intuitive Astrologie. Dazu erschallte die pathetisch angehauchte Stimme des Hellfühlers: »Persönlichkeit … Potenzial … Aufgaben … Selbsterfahrung … Verantwortung … Lösungen.«
Lydia Naber musste schnaufen. Lange schien der Typ das noch nicht zu machen. Es wirkte hölzern und unsicher. Sie hörte Erstaunliches. »Das Geburtshoroskop gibt Aufschluss über den gesamten Fächer unserer Persönlichkeit, der, abhängig von unserer Selbsterforschung, mehr oder weniger bewusst ist. Unsere Stärken und Schwächen sind verbunden mit Helfen und Vermeiden und es liegt in unserer Verantwortung, wie wir damit umgehen. Die persönliche Aufgabe in diesem Leben zu erkennen und anzunehmen bringt uns auf den Weg zu tiefem Frieden mit uns selbst.«
Die Liste an der Wand wurde erweitert um: Lösungsorientiertes Kartenlegen. Dazu folgten die Schlagworte: »Alte Muster, Wiederholung, Ratlosigkeit«, begleitet von der Erklärung, »Situationen, die uns bewegen, die sich wiederholen, die viel Kraft kosten, die Leben blockieren. Im persönlichen Gespräch wird der Kernpunkt der Situation ermittelt und mithilfe eines von uns entwickelten Kartenfragesystems werden die dazugehörigen Verbindungen beleuchtet und spürbar gemacht. Diese Beratung eignet sich für Menschen, die sich um Bewusstheit bemühen und offen sind für eigene innere Botschaften.«
Er trat zur Seite und die Blonde übernahm. Sie lächelte ihm freundlich zu, wie eine Mutter, die ihr Kind damit loben wollte. Ihr Auftreten wirkte weitaus erfahrener und wendiger, machte dadurch aber das Unvermögen des Hellfühlers auf unangenehme Weise deutlich. Sie stellte sich als Auratherapeutin und autodidaktische Kartenlegerin vor, wobei die Betonung letzterer Bezeichnung so klang, als hätte dies ein langjähriges, leidensvolles Studium erfordert.
Lydia Naber hatte das Handy hervorgeholt und schickte eine SMS an Wenzel, in der angegeben war, wo sie sich gerade aufhielten. Er würde schon wissen, was zu tun war.
Die Worte Auraarbeit und Auratherapie leuchteten vorne auf und mit samtener Stimme und schlangenhafter Körpersprache erklärte sie: »Wir erlangen neue Kraft durch Auraarbeit – dies dient der Reinigung, Befreiung und Pflege unserer Seele. Wir fühlen oft, wie Blockaden unseren Lebensfluss bremsen. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung – es schwächt die Ichkraft und in der Folge erleben wir Ohnmacht. Verliere ich jedoch die Macht über mich selbst, so bestimmen andere mein Leben. Freudlosigkeit, Erschöpfung und völliges Ausgebranntsein können die Folgen davon sein.«
Lydia Naber nickte heftig. Schielin gab ihr einen Stoß mit dem Ellbogen.
»Unsere Auraarbeit richtet sich direkt auf das menschliche Energiefeld, reinigt und entstört es und kräftigt den Aufbau neuer Energien. Diese Methode ist ganz besonders für Menschen geeignet, die bereit sind, aktiv am Genesungsprozess teilzuhaben und den Willen aufbringen, persönliche Rituale einzuüben. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass mehrere Behandlungen zu Erfolg führen.«
Lydia Naber flüsterte: »Was … ist … ein … Hellfühler?«
Schielin tuschelte: »Wie der Name nahelegt, jemand, der nicht hellsehen kann.«
»Ah, interessante Schlussfolgerung. Ich will ja nicht unken, aber ein wenig hellfühlen kann ich schon auch und ich fühle, dass mich die Beschreibung der Putzfrau bezüglich des Mannes, den sie am Morgen gesehen hat, doch sehr an den Stumpen da vorne erinnert.«
Schielin wendete den Blick nicht von der Präsentationsfläche. Ließ
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