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Hahn, Nikola

Hahn, Nikola

Titel: Hahn, Nikola Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe von Kristall
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gerade hell genug, um zu
erkennen, daß die Treppe abgetreten war und von der Wand die Farbe blätterte.
Irgendwo schrie ein Säugling. Die Tür zu Käthe Heusohns Wohnung war nicht
abgesperrt. Annika legte den Finger auf den Mund, als sie sie öffnete. »Paul
hat gesagt, daß ich leise sein soll. Und die Suse und der Helmi auch. Weil
unsre Mama schneller wieder gesund wird, wenn sie schläft.«
    Die
Wohnung bestand aus einer bis zum letzten Winkel zugestellten, düsteren
Kammer. Eine Ecke war mit einem Vorhang abgetrennt. Vor einem blinden Fenster
lagen Schachteln mit Metallperlen. Auf dem Herd stand ein Topf. Es roch nach
Kohlenruß und gekochten Rüben. Richard hatte gewußt, daß der Junge aus
ärmlichen Verhältnissen kam, aber daß er mit drei Geschwistern und seiner
kranken Mutter in einem einzigen Raum hauste, beschämte ihn.
    Annika
deutete auf den Topf. »Ich muß immer gucken, daß sie mittags ihre Suppe ißt.«
    »Was
fehlt deiner Mutter denn?« flüsterte Richard.
    »Mama hat
die Nichtanfaßkrankheit. Und deshalb muß Paul jetzt die Perlen fädeln. Damit
die Herren aus der Fabrik die Mama nicht rausschmeißen, sagt Paul. Ich helf
ihm, und die Suse auch. Aber wenn wir zuviel gähnen, schickt Paul uns schlafen.
Und dann hat er die ganze Nacht das Licht an. Und kochen muß Paul auch, weil
die dumme Suse immer alles anbrennen läßt. So dolle schmeckt die Suppe vom
Paul aber nicht. Und der Helmi schreit immer, weil er noch klein ist und
    nicht
kapiert, was die Nichtanfaßkrankheit ist. Vorhin ist er mit der Suse zu unsrer
Nachbarin. Das ist die Frau Senn. Die Suse hat ihr gesagt, daß sie krank ist,
aber sie will nur wieder die Schule schwänzen. Aber das darf Paul nicht wissen,
sonst schimpft er sie aus. Die Frau Senn ist ganz lieb und schenkt mir manchmal
ein Brot mit echter Butter drauf. Das schmeckt mir noch viel besser als die
Bonbons vom Onkel Fritz.«
    Richard
war so betroffen, daß ihm die Worte fehlten. »Weißt du, wo Paul ist?«
    »Vorhin
war er mal da. Aber dann ist er wieder weggegangen, glaub ich.«
    »Annika?«
fragte eine schwache Stimme. »Mit wem sprichst du da?«
    Hinter
dem Vorhang stand ein Bett, und Richard erschrak, als er die Kranke darin sah.
Sie war abgemagert, und ihre Wangen glühten. Auf ihrer Stirn perlte Schweiß.
Sicher hatte sie hohes Fieber. »Wer sind Sie? Wer schickt Sie?« fragte sie mit
heiserer Stimme.
    Richard
stellte sich vor. »Entschuldigen Sie, daß ich einfach hereinkomme. Aber ich muß
dringend mit Ihrem Sohn sprechen.«
    Über
ihr verhärmtes Gesicht huschte ein Lächeln. »Paul ist so stolz, daß er mit
Ihnen arbeiten darf, Herr Kommissar.«
    »Können
Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
    Sie
schüttelte den Kopf. »Ich dachte, er ist bei Ihnen im Präsidium?«
    »Er hat
heute frei. Aber es ist sehr wichtig, daß ich mit ihm spreche!«
    »Vielleicht
ist er in seinem Stübchen«, sagte Annika.
    Käthe
Heusohn deutete zur Decke. »Eine kleine Bodenkammer.« Für einen Moment schloß
sie die Augen. »Der einzige Ort, an dem der Junge ein bißchen Ruhe hat.«
    »Sie
brauchen einen Arzt«, sagte Richard.
    »Der
kann mir auch nicht mehr helfen.« Sie lächelte, wobei ihr die Schmerzen
anzusehen waren. »Paul ist so ein guter Junge.«
    »Soll
ich Ihnen zeigen, wo's langgeht?« fragte Annika.
    Richard
nickte. »Ich werde Ihnen jemanden vorbeischicken, Frau Heusohn«, sagte er,
bevor er Annika folgte.
    Über
eine Stiege kletterten sie in den Spitzboden. Annika zeigte auf eine Luke,
unter der eine alte Seemannstruhe stand. »Da raus, übers Dach, und auf der
anderen Seite durchs Fenster wieder rein.«
    Richard
spürte, wie ihm der Hals eng wurde. »Gibt es noch einen anderen Weg?«
    »Paul
sagt, nein.« Sie grinste. »Aber das ist bestimmt gelogen. Hat er was Schlimmes
angestellt?«
    »Nein.
Ich muß ihn etwas fragen.«
    »Was
denn?«
    »Das
ist ein Polizeigeheimnis. Weißt du, wir arbeiten nämlich an einem ganz
wichtigen Fall. Und du gehst jetzt wieder zu deiner Mutter und paßt auf sie
auf, ja?«
    Richard
wartete, bis das Kind verschwunden war. Er stieg auf die Truhe und stieß die
Luke auf. Gewaltsam kämpfte er Übelkeit und Schwindel nieder. Warum mußte sich
dieser unvernünftige Junge seinen Zufluchtsort ausgerechnet auf dem Dach
suchen? Als er auf die Schindeln faßte, blieben feuchte Flecken zurück. Es
waren nur wenige Meter, aber sie schienen ihm wie ein Gang durch die Hölle. Die
Angst, zu spät zu kommen, trieb ihn vorwärts. Er war schweißgebadet, als er

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