Hahn, Nikola
hinterher. Er würde Franck bitten, auch Kommissar Beck
einen Gehilfen zuzuteilen und die Aufgaben paritätisch aufteilen. Vielleicht
gelang es, seinem ehrgeizigen Kollegen den Wind aus den Segeln zu nehmen, wenn
er ihn möglichst eigenständig arbeiten ließ. Er stellte die von Franck
gewünschte Liste zusammen und sah die Berichte über die nächtlichen
Sistierungen durch: allein am Centralbahnhof waren vierzehn Mann festgenommen
worden, die aber aufgrund fehlender Verdachtsmomente alle wieder entlassen
werden mußten. Nachdem Polizeirat Franck seine Vorschläge gebilligt hatte,
beauftragte Richard zwei Schutzleute, nach der Herkunft des roten Seils und der
Manschettenknöpfe zu forschen und schaute bei Kommissar Beck vorbei, der in einem
Zimmer im Erdgeschoß die Zeugenvernehmungen leitete. Anschließend fuhr er zu
Lichtensteins Witwe und danach zum Frankfurter Friedhof.
Die
Sektion war für zwei Uhr angesetzt und fand in der Leichenhalle statt. Richard
begrüßte die Gerichtskommission sowie Staatsanwalt von Reden und gab ihnen
einen Abriß des aktuellen Ermittlungsstandes. Als er erwähnte, daß auf eine
photographische Aufnahme des Tatorts verzichtet worden war, schüttelte der
Staatsanwalt ungläubig den Kopf.
Zwei
Sektionsgehilfen brachten den Leichnam herein und legten ihn auf den
Seziertisch. Richard kämpfte gegen Übelkeit und riß sich zusammen. Er hatte
schon weitaus schlimmer zugerichtete Tote gesehen und an unzähligen Sektionen
als Beobachter teilgenommen, er würde auch diese überstehen.
»Autopsie
des Pianofortehändlers Hermann Richard Lichtenstein, zweiundfünfzig Jahre alt,
zuletzt wohnhaft Palmengartenstraße 4, Frankfurt am Main, zu Tode gekommen am
26. Februar 1904, mittags halb ein Uhr, Zeil 69, Frankfurt am Main«, diktierte
Gerichtsarzt Dr. Roth dem Gerichtsschreiber ins Protokoll, bevor er zusammen
mit einem zweiten Arzt seine Arbeit begann.
Die
Sektion dauerte dreieinhalb Stunden und ergab folgenden Befund: ausgeprägte
Hämatome im Gesicht, neun bogenförmige abgegrenzte Wunden auf dem Kopf,
Zertrümmerung des Schädeldachs und Stirnbeins mit Quetschung des Gehirns,
schwach ausgeprägte Strangulationsmerkmale an den Halsweichteilen, keine zyanotische
Verfärbung des Gesichts, fehlende Ekchymosen in den Bindehäuten der Augen.
»Wir
können demnach sicher sein, daß nur die Kopfverletzungen, nicht aber die
Strangulation, todesursächlich gewesen sind?« fragte Staatsanwalt von Reden.
Dr.
Roth nickte. »Das Verletzungsbild auf der Kopfschwarte legt nahe, daß das
benutzte Instrument kreisförmig oder bogenförmig war, unter Umständen ein
Werkzeug, wie es Schuster oder Dachdecker besitzen. Aufgrund der Ausprägung
und Lage der Verletzungen kann davon ausgegangen werden, daß die
Gewalteinwirkung sehr stark war und überwiegend von vorn erfolgte.«
Als
Richard ins Präsidium zurückkehrte, war es bereits dunkel. Auf den Fluren
brannten Gaslampen. Er ließ Kommissar Beck kommen, unterrichtete ihn über das
Autopsieergebnis und fragte nach dem Verlauf der Vernehmungen.
»Jeder
zweite Bürger dieser Stadt scheint freitags mittags zwischen Hauptwache und
Katharinenkirche zu flanieren«, sagte Beck. »Und zwar überwiegend mit
geschlossenen Augen. Von zwei Aussagen abgesehen, haben die Vernehmungen nicht
das Geringste gebracht. Der Auslaufer der Firma Carsch & Cie. gegenüber der
Pfandhausgasse will zur Tatzeit eine verdächtige Gestalt am Hinterausgang Zeil
69 bemerkt haben, ohne diese jedoch näher beschreiben zu können, und die
Schreibkraft der Rechtsanwaltskanzlei Mettenheimer und Pachten, ein Fräulein
Margarete Freytag, behauptet, mindestens einmal beobachtet zu haben, daß
Lichtenstein in der Mittagspause Damenbesuch empfing. Es soll sich dabei um
eine Dame von nicht ganz untadeligem Ruf gehandelt haben, wenn Sie verstehen,
was ich meine.«
»Würde
sie die Frau wiedererkennen?« fragte Richard.
»Leider
hat der Beamte, der die Vernehmung durchführte, es versäumt, mich zu
informieren, so daß die Zeugin entlassen wurde. Ich habe ihre Rückverbringung
angeordnet, um die noch offenen Fragen zu klären.«
»Soweit
ich weiß, verfügt Kommissar von Lieben über eine photographische Sammlung
entsprechender Frauenspersonen, die man ihr vorlegen könnte.«
»Ich
habe schon danach geschickt. Aber die Herren scheinen vollauf mit der
Einarbeitung ihrer neuen Assistentin beschäftigt zu sein.«
»Den
ersten Namen aus Lichtensteins Notizkalender können wir streichen«,
Weitere Kostenlose Bücher