Hahn, Nikola
leider
wurde er vorher ermordet. Oder sollte ich sagen: Zum Glück?«
»Bitte
lassen Sie mich los.«
Er nahm
das Buch von der Pritsche. »Wofür haben Sie den läppischen Betrag gebraucht?«
»Der
läppische Betrag ist ein halber Monatslohn, Herr Kommissar.«
»Ich fragte,
wofür Sie das Geld verwendet haben!«
»Ich
hatte eine dringende Besorgung.«
»Welche?«
Sie
sank in sich zusammen. »Ich brauchte ... ein neues Kleid.«
»Sie
sollten sich schämen.« Beck klopfte an die Tür; der Wachbeamte öffnete.
»Was werden
Sie denn jetzt mit mir tun?«
Er sah
sie verächtlich an. »Diebstahl wird mit Gefängnis bestraft, gnädiges
Fräulein.«
»Und?«
fragte der Wachbeamte im Flur.
»Lassen
Sie sie eine Stunde schmoren, dann werfen Sie sie raus.« Der Wachbeamte
grinste. Beck ließ ihn stehen und ging zurück in sein Büro. Sie trug weder
Schmuck, noch machte sie den Eindruck, als lege sie Wert auf irgendwelchen Tand
und stahl Geld für ein Kleid! Er wußte nicht, warum, aber es enttäuschte ihn.
Er sah das Zwanzigmarkstück an. Eigentlich hätte er zufrieden sein müssen, daß
er ihr die Wahrheit abgerungen hatte, aber er hatte nicht einmal Lust, die
Anzeige zu schreiben. Er brachte das Kassenbuch zurück, schloß das Geld in
seinem Schreibtisch ein und begann, einen Bericht über die durchgeführte
Tatortphotographie zu verfassen.
Eine
Dreiviertelstunde später klopfte es; bevor er etwas sagen konnte, stürzte ein
Polizeidiener herein. »Ich bitte um Verzeihung, Herr Kommissar! Das Fräulein
hat versucht, sich was anzutun!«
Als
Beck ins Polizeigefängnis kam, lag Anna Frick auf einer Trage im Flur. Ihre
Augen waren geschlossen, ihre Handgelenke bandagiert. Dr. Meder deckte sie zu
und befahl, sie unverzüglich ins Städtische Krankenhaus zu überführen.
»Wenn
Sie meinen, daß sie bewacht werden muß, schicken Sie Beamte mit«, sagte er zu
Beck.
Er
schüttelte den Kopf. »Wird sie durchkommen?«
Dr.
Meder zuckte mit den Schultern. »Sie hat viel Blut verloren. Zum Glück hat der
Wachbeamte sie rechtzeitig gefunden. Warum war sie inhaftiert?«
»Verdacht
des Diebstahls«, murmelte Beck. Er sah den Wachbeamten an. »Wie, um Himmels
willen, konnte das passieren?«
Der
Beamte zeigte in die offene Zelle. Der Fußboden war voller Blut. Vor der
Pritsche lag das Brillenetui, daneben die Brille. »Sie hat die Gläser
herausgebrochen.«
»Holen
Sie jemanden zum Saubermachen.« So elend hatte Beck sich in seinem ganzen Leben
noch nicht gefühlt.
Kapitel
7
Morgenblatt
Montag,
29. Februar 1904
Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt
Raubmord
auf der Zeil. Wer die Mörder sind, das
weiß keiner außer den Verbrechern selbst. Leider, so muß man sagen, verringert
sich mit jeder Stunde die Möglichkeit, daß das schwere Verbrechen durch die
Gesetze Sühne findet. Das ist eine alte kriminalistische Erfahrung.
Zu
später Stunde wurde uns mitgeteilt, daß der Behörde eine wichtige Nachricht
zugekommen ist. Seit einigen Tagen soll, so heißt es, ein Klaviertransporteur
vermißt werden, der in Diensten eines hiesigen Unternehmens stand, das sich
mit Möbel- und Klaviertransport befaßt. Jener Transporteur soll am vergangenen
Montag bei Lichtenstein gewesen sein und ihm gesagt haben, er werde im Laufe
der Woche mit einem Offenbacher Wirt wegen Ankauf eines Klaviers wiederkommen.
Jener Mann ist seit etlichen Tagen nicht mehr in seine Wohnung gekommen; sein
Aufenthaltsort ist unbekannt.
Die
Beerdigung Lichtensteins wird am Mittwoch erfolgen.
A ls die Droschke anfuhr, schloß Richard die Augen. Daß Beck sich
entschuldigt und freiwillig den verhaßten Photographietermin übernommen hatte,
gab Anlaß zu der Hoffnung, daß sie zukünftig besser miteinander auskommen
würden, auch wenn es sicher niemals so werden würde wie mit Wachtmeister Braun.
Wie er den alten Querkopf und seine respektlosen Bemerkungen vermißte! Wer
mit den Leuten reden will, muß mit ihnen schwätzen können, Herr Kommissar.
Das
Frankfurt der kleinen Leute, die verwinkelten Gäßchen, in denen brave
Kleinbürger Tür an Tür mit leichten Mädchen wohnten, Händler und Handwerker
sich ihre engen Behausungen mit Schlafburschen und Arbeitern teilten, war ihm
trotz Brauns Bemühungen fremd geblieben, genauso wie die Welt der Honoratioren,
der Großkaufleute, Bankiers und Unternehmer, in die er durch seine Heirat mit
Victoria geraten war. Sein Zuhause war die Fichardstraße gewesen, fünfzehn
Jahre lang, vier Zimmer in einem
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