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Hahn, Nikola

Hahn, Nikola

Titel: Hahn, Nikola Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe von Kristall
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ledig,
fünfunddreißig Jahre alt, zehn davon im Gefängnis und Zuchthaus verbracht.
Zweiter Stock: Marianne und Ernst Glocke, vierzehn Jahre verheiratet, neun
Kinder, fünf tot, er Säufer, sie Gelegenheitsdirne. Dritter Stock: Helmut
Stickl, Zuhälter.« Er machte eine ausholende Handbewegung. »In dem gelben Haus
dort hinten können Sie sich über Gegenstände zum unzüchtigen Gebrauch
informieren und schamlose Photographien erwerben, in den Fenstern der Weinstube
nebenan rekeln sich abends die Kellnerinnen. In den umliegenden Gassen finden
Sie eine Auswahl an Darlehensschwindlern, Ladendieben, Einbrechern,
Kurpfuschern und Paletotmardern. Außerdem jede Menge Schlafburschen, sozialdemokratische
Agitatoren und anderes lichtscheues Gesindel.«
    Laura
zeigte auf eine junge hübsche Frau, die einen Weidenkorb mit Einkäufen trug,
auf spielende Kinder und einen älteren Mann, der sich mit dem Tabakhändler
unterhielt. »Diese Sorte Bewohner ist in der Überzahl, oder? Außerdem finde
ich, daß die Sozialdemokraten, insbesondere, was die Stellung der Frau angeht,
in dem einen oder anderen Punkt durchaus recht haben.«
    »Ach
ja?« sagte er sarkastisch. »Meinen Sie vielleicht die von Bebel propagierte
freie Liebe, diese grandiose Auffassung, daß Proletarier nicht zu heiraten
brauchen, weil sie ihren Kindern ohnehin nichts zu vererben haben?«
    »Er
fordert lediglich ein vom Gesetzeszwang befreites Zusammenleben zwischen Mann
und Frau, das
    »...nicht
mehr wäre als staatlich geförderte Prostitution, in der die Weiber kommen und
gehen können, wie es ihnen einfällt.«
    »Ich
glaube, es hat wenig Sinn, mit Ihnen darüber zu diskutieren«, sagte Laura.
    »Wenn
man aus einem Sumpf herauskommen will, muß man ihn verlassen und den Dreck
abwaschen. Bebel und seinesgleichen fordern, sich darin zu suhlen und noch
stolz darauf zu sein!«
    »Eine
Pflanze, die man ohne Wurzeln aus der Erde reißt, wird an keinem Ort der Welt
mehr wachsen.«
    »Wenn
die Erde fault, stinkt alles, was drinsteckt.« Als sie schwieg, lachte er. »Zum
Citronengäßchen geht's da lang. Es sei denn, Sie haben keine Lust mehr, im
Sumpf zu waten.«
    »Warum
tun Sie das?«
    »Was
denn?«
    »Mich
ständig provozieren!«
    Seine
Hand streifte ihre Wange. »Ich versuche bloß, Sie zu verstehen.«
    Sie
wandte sich brüsk ab. »Ihr Benehmen widerspricht sämtlichen bürgerlichen Regeln,
auf die Sie doch offenkundig so großen Wert legen.«
    »Verzeihen
Sie, gnädiges Fräulein, aber ich hatte nicht den Eindruck, daß Sie großen Wert
darauf legen.«
    Als sie
Martin Heynes Elternhaus im Citronengäßen erreichten, fing es an zu regnen. Er
winkte Laura unter den Stützbalken hindurch zu einem schmalen Durchgang, der in
einen düsteren kleinen Hof führte. Es roch nach Ruß und Abort. In einem
Steintrog lag eine zerbrochene Puppe, daneben stapelten sich Fässer und Kisten.
Über eine Außentreppe gelangten sie zu einem mit Brettern vernagelten
Verschlag, an dem die Reste eines Holzgeländers hingen. Vor einem Fenster
flatterte Wäsche; von der Fassade bröckelte der Putz.
    »Das
Schließen der Galerien ist ein beliebtes, weil billiges Mittel, zusätzlich vermietbaren
Wohnraum zu schaffen«, sagte Martin Heynel. »Früher war das mal ein Balkon.
Jetzt stehen drei Betten darin, was mindestens sechs zusätzliche Schlafplätze
bringt.«
    Neben
dem Verschlag führte ein Durchgang zum ersten Stock. Heynel klopfte gegen eine
der Türen.
    Ein
etwa sechsjähriger Junge öffnete. »Mama! Onkel Martin ist da!« rief er in das
Halbdunkel hinter sich.
    Eine
Frau erschien an der Tür. Sie hatte schwarzes Haar, trug ein verwaschenes Kleid
und war hochschwanger. »Du liebe Zeit, Martin! Ich bin doch gar nicht auf
Besuch eingerichtet!«
    Er
lächelte. »Ich hatte eine Ermittlung in der Nähe, und meine Kollegin wollte
unbedingt wissen, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Fräulein Laura Rothe -
Lotte Heynel, meine kleine Schwester.«
    Laura
gab ihr die Hand. Die Situation war mehr als peinlich. Nicht nur, daß Heynel
ihr unangebrachte Neugier unterstellte, er machte auch seine Schwester
unmöglich, indem er sie nötigte, eine Fremde ohne jede Vorbereitung in ihre
Wohnung zu lassen.
    Das Zimmer,
in das sie kamen, hatte die Größe von Heiner Brauns Stube und diente, wie zwei
Betten vermuten ließen, nicht nur als Wohn-, sondern auch als Schlafraum. Vor
einem Fenster stand eine Nähmaschine. Auf dem Vorleger zwischen den Betten
spielte ein etwa dreijähriges Mädchen mit einer

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