Hahn, Nikola
Personen
beizuziehen haben.«
»Eine
nette Idee. Vor allem nachts.« Heynel widmete sich wieder seiner Arbeit. Laura
schaute ihm über die Schulter. Seine Schrift war gestochen scharf; die
Buchstaben standen nebeneinander wie Soldaten beim Appell.
Frankfurt,
den 29. Februar 1904.
Der
hier Fahrgasse 7 wohnhafte Geometer Felix Kaufmann zeigte am 24. d. M. an, daß
der am 10. Mai 1857 in Köln geborene, hier Großer Hirschgraben 12 wohnhafte
Inhaber eines Spitzengeschäfts Werner Oswald Simon
am 22.
Februar d.J. in den Mittagsstunden an seiner am 15. August 1889 geborenen
Tochter Maria Martha Kaufmann Notzucht verübt habe.
»Ist
das die Ermittlung, von der Sie sprachen?«
Er
nickte. »Bevor ich die Anzeige fertigstellen kann, muß ich noch Simons
ehemalige Verkäuferinnen befragen.«
»Warum?«
Er gab
ihr zwei Blätter. Laura las:
Die
miterschienene 14jährige Martha Kaufmann gab auf Nachfrage folgendes an: Sie
sei seit dem 1. Januar d. f. bei Simon als Lehrmädchen in Stellung und beziehe
einen monatlichen Gehalt von 10 Mark. Schon wenige Wochen nach ihrem Eintritt
in das Geschäft habe sie von der damaligen Verkäuferin Franziska Helbig,
wohnhaft Kruggasse 1, erfahren, daß Simon, der zwar verheiratet ist und
erwachsene Kinder hat, ihr, wenn sie auf der Leiter stehend etwas aus einem
oberen Fache eines Regals habe holen müssen, wozu er sie oft veranlaßt habe,
unter die Röcke an die Waden und »in die Hosen« gegriffen habe. Da aber die
Kaufmann hiervon nie etwas gesehen habe, sei es ihr zweifelhaft gewesen, ob
nicht die Helbig bloße Schwätzerei gemacht habe. Die Helbig sei dann eines
Tages weggeblieben, es habe geheißen, sie habe Spitzen gestohlen.
Es
folgten die Aufzählung diverser Unsittlichkeiten und die in kindliche Worte
gefaßte Schrecklichkeit eines erzwungenen Geschlechtsverkehrs auf einem
schmuddeligen Diwan im Hinterraum des Geschäfts.
Laura
gab Heynel die Anzeige zurück. Er strich den Federhalter ab und schloß das
Tintenfäßchen. »Simon hat es geschickt angefangen: Er beschäftigte jeweils zwei
Verkäuferinnen, näherte sich aber stets nur einer; beschwerte sie sich, hielt
er die Aussage der anderen dagegen, und wenn das nichts half, hängte er ihr
einen Diebstahl an und warf sie hinaus. Am vergangenen Donnerstag habe ich ihn
festgenommen.«
»Hat er
es zugegeben?«
»Selbstverständlich
nicht. Er sagte, wenn er solche Sachen machen wolle, hätte er besseren
Geschmack.«
»Sie
glauben dem Mädchen?« fragte Laura.
»Wenn
Sie sie gesehen hätten, würden Sie ihr auch geglaubt haben.«
»Ich
habe in Berliner Krankenhäusern ganz andere Dinge gesehen, die ohne jede
polizeiliche oder gerichtliche Sanktion blieben.«
Heynel
holte ein Buch aus Kommissar von Liebens Schreibtisch und blätterte darin. »Im
vergangenen Jahr wurden im Deutschen Reich insgesamt
elftausendneunhundertundeins Personen über achtzehn Jahre wegen Verbrechen und
Vergehen gegen die Sittlichkeit verurteilt, darunter
viertausendunddreiundsechzig wegen Unzucht mit Gewalt. Mehr als Dreiviertel
der Opfer unzüchtiger Handlungen waren Kinder unter vierzehn Jahren. Es ist
eine einzige Sauerei!« Er schlug das Buch zu. »Wäre sie zwei Jahre älter
gewesen, hätte ich Simon geglaubt.«
»Warum?«
»Weil
Weiber dazu neigen, Ursache und Wirkung zu verwechseln.« Er nahm Mantel und
Hut und verließ das Büro. Laura folgte ihm wortlos.
Zwei
Stunden später hatten sie mit vier Verkäuferinnen gesprochen. Zwei räumten
ein, daß Simon sie vor der Kündigung bedrängt habe, die dritte erklärte, mit
allem einverstanden gewesen zu sein und die vierte, daß nichts Unsittliches
vorgefallen sei. Im Zimmer nebenan spielte ihr uneheliches Kind. Anschließend
zeigte Martin Heynel Laura den Laden des Spitzenhändlers in der Weißadlergasse.
»Gestern
bin ich hier mit Wachtmeister Braun spazieren gegangen«, sagte sie.
Heynel
verzog das Gesicht. »Hat Ihnen der alte Narr sein Hohelied auf die Frankfurter
Altstadt gesungen?«
Laura
ärgerte es, daß er so abfällig über Braun sprach. »Er hat mir Ihr Zuhause im
Citronengäßchen gezeigt.«
»Das
ist nicht mein Zuhause!«
Als sie
widersprechen wollte, winkte er ab. »Kommen Sie mit.«
Sie
bogen in die Rotekreuzgasse ein. Der Inhaber des Zigarrenlädchens sagte
flüchtig guten Morgen, bevor er fortfuhr, ein Reklameschild an seiner Tür
anzubringen. War sein Lächeln über Nacht gestorben?
Martin
Heynel wies auf eins der Häuser. »Erdgeschoß: Waldemar Singer,
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