Hahnemanns Frau
verdeutlichen, daß nicht alles, was uns fremd ist und wir nicht begreifen oder beweisen können, falsch sein muß. Und halten wir stur an dem fest, was wir immer glaubten, nur weil wir zu bequem oder zu ängstlich oder zu habgierig sind, neue Wege einzuschlagen, wird sich die Menschheit nicht fortentwickeln können.«
»Monsieur, bitte kommen Sie zum Schluß!« Richter Borel wischte sich die Stirn mit einem Tuch und seufzte entnervt.
Chaix-D'Est-Ange wandte sich Mélanie zu. »Diese Frau, Messieurs, hat bewiesen, daß es ihr sehr wohl möglich ist, dasselbe zu leisten wie ein Mann. Nun gut, diese Tatsache paßt sowenig in unser althergebrachtes Bild wie die neue Heilmethode, für die Madame eintritt. Aber dürfen wir deshalb darauf beharren, daß alles nur ganz genau so zu sein hat, wie es immer war? Sollen wir zur Inquisition werden, weil die Ärzteschaft sich von einer Madame Hahnemann bedroht fühlt?«
Er sah den Richter wieder an. »Ich war überwältigt von der Vielzahl an Briefen und Besuchen bedeutender Persönlichkeiten und auch einfacher Menschen, die über diesen Prozeß empört sind und sich als Zeugen anboten, um zugunsten Madame Hahnemanns auszusagen. Darunter Lady Elgin, Henry Scheffer, die Comtesse de Rochefort, Monsieur Musard, Ernst Legouvé – um nur einige wenige zu nennen!«
Plötzlich drehte er sich um und fixierte nacheinander die auf den Besucherbänken anwesenden Ärzte mit Blicken. »Das Gesetz, nach dem Madame Hahnemann angeklagt ist«, rief er mit drohender Stimme, »wurde verfaßt, um kranke Menschen vor unfähigen Ärzten zu schützen – nicht aber, um unfähige Ärzte vor der Konkurrenz zu bewahren, die erfolgreiche Heilkundige für sie darstellen!«
Ein Raunen machte sich im Saal breit.
»Unverschämtheit!«
»Das lassen wir uns nicht bieten!«
»Ruhe!« Richter Borels Hammer trommelte auf den Tisch.
»Allein die Fähigkeit, nicht aber die von Amts wegen bestätigte Qualifikation oder gar das Geschlecht sollte darüber entscheiden, ob ein Mensch praktizieren darf«, fuhr Chaix-D'Est-Ange unbeirrt fort. Er ging zur Absperrung, hinter der die Zuschauer saßen, legte seine Hände darauf und rief: »Oder wäre etwa Christus vor dieses Gericht gestellt worden, weil er Lazarus vom Tod auferweckt hat, ohne dafür die medizinische Qualifikation zu besitzen?«
Die meisten der Zuschauer lachten, einige wenige starrten den Anwalt finster an.
Chaix-D'Est-Ange drehte sich wieder um und ließ seinen Blick auf Borel ruhen. »Das hohe Gericht sollte sich nicht zum Verbündeten einiger Neider degradieren lassen. Es ist offensichtlich, daß der Grund für diese Anklage nicht im Bedürfnis nach Schutz von Recht und Ordnung liegt. Es geht den Anklägern auch nicht um den Schutz von Patienten! Nein, hier geht es einzig um Neid! Man möchte auf diesem Wege verhindern, daß eine Frau mit einer neuen Heilmethode der Ärzteschaft Konkurrenz macht.« Leiser fügte er an. »Mehr habe ich nicht zu sagen.«
Einige Sekunden war es vollkommen still im Raum. Dann brach Beifall aus den letzten Reihen los.
Richter Borel sprang auf, griff nach seinem Hammer und schlug auf den Tisch. »Ich darf doch sehr bitten – dies ist kein Volksfest! Hier geht es um Recht und Gesetz! Also mäßigen Sie sich!«
Er nahm seine Unterlagen, starrte zuerst Sellard an, sah dann zu Mélanie. »Die Urteilsverkündung wird auf nächsten Donnerstag vertagt!« Damit verließ er den Raum.
Das Urteil
Auch Rose wollte mit zur Urteilsverkündung kommen. Weinend flehte sie Mélanie an. »Bitte, Madame, haben Sie Mitleid. Zu Hause würde ich krank werden vor Angst!« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, dann fiel sie Mélanie schluchzend in die Arme.
Was hatte ihre geliebte Herrin in den letzten Jahren doch alles erleiden müssen. Vor Trauer ist sie fast verrückt geworden! Belogen und betrogen hatte man sie! Freunde hatten sich von ihr losgesagt, und ihr Hab und Gut mußte sie verkaufen, um existieren zu können. Bilder, Möbel, Schmuck, sogar Dr. Hahnemanns Uhren verschwanden nach und nach aus der Wohnung, damit sie zu essen hatten. Dazu ständig die erbitterten Anfeindungen aus allen Lagern. Die Ärzte griffen sie an, weil man verhindern wollte, daß sie praktizierte. Aus den Reihen der Homöopathen wurden immer unflätigere Beschimpfungen laut. Egoistisch, selbstsüchtig und boshaft nannte man sie. Fast vier Jahre nach Dr. Hahnemann Tod sei es doch endlich an der Zeit, die Manuskripte und Patientenberichte ihres
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