Hahnemanns Frau
geschossen und mit Steinen geworfen. Ich wollte mich verstecken, da sah ich plötzlich Doyen. Er wankte auf einen Hauseingang zu, dort brach er zusammen. Es war nicht leicht, ihn da herauszuholen. Die Soldaten sind wie die Wahnsinnigen, sie schießen auf alles, was sich bewegt, aber es gelang schließlich, und ich brachte ihn hierher.« Sébastien schüttelte den Kopf. »Mehr als vierzig Tote hat der Aufstand bereits gefordert, und wie es aussieht, wird der König noch heute abdanken. Nach achtzehn ruhigen Jahren, in denen sich das Volk verblenden und verdummen ließ, haben wir nun wieder eine Revolution.«
»Ja, eine Revolution«, wiederholte Mélanie. »Vielleicht ist ein Neuanfang für Frankreich gar nicht so schlecht.«
Die Ereignisse überschlugen sich. Louis-Philippe dankte ab und floh nach England. Einige Wortführer unter den Revolutionären nutzten die Gunst der Stunde, bildeten sofort eine provisorische Regierung und riefen bereits eine Woche später zu Wahlen auf. Zu ihrem eigenen Schaden, wie sich zeigte, denn das Volk entschied sich für ein gemäßigtes Parlament aus bürgerlichen Republikanern unter dem Dichter Alphonse de Lamartine.
»Lamartine.« Mélanie schüttelte ungläubig den Kopf. Sie kannte den Dichter und wußte, er schätzte sie. Und nicht nur er – fünf weitere Politiker der neuen Regierung galten als Befürworter der Homöopathie. Sie fiel Charles um den Hals. »Es ist entsetzlich, daß fünfzig Menschen den Tod fanden, aber für mich sind diese politischen Wirren ein Glück. Guizot, Orfila und all die anderen, die zu meinen Gegnern zählten, haben nun keine Macht mehr! Das bedeutet …« Sie brach ab und schlug die Hände vor den Mund.
»Das bedeutet, du wirst deine Praxis wiederaufnehmen?« Besorgt sah Charles sie an.
»Ja, mein Lieber – ja, das werde ich tun!«
Drittes Buch
Mélanie legte etwas Holz auf das Kaminfeuer und blies in die Glut. Nur zaghaft loderten Flammen auf und züngelten um das Fichtenscheit. Es war zu kühl für die Jahreszeit, und obwohl kaum noch Holz im Verschlag war, mußte sie heizen.
Seufzend hielt sie ihre klammen Hände über das schwache Feuer. Wie sollte sie den kommenden Winter überstehen? Schon wieder erschütterte ein Krieg das Land, und man wußte nicht, wohin das Schiff auf dem offenen Meer treiben würde. Diesmal war es Kaiser Napoleon III. der die Geschicke des Landes lenkte. Er hatte sich von Bismarck in ein undurchsichtiges Intrigenspiel verwickeln lassen. Seit sechs Wochen tobten nun die Kämpfe bereits, Tausende von Soldaten hatten dabei ihr Leben gelassen.
Sie ging zurück zum Schreibtisch und nahm den Brief auf, den sie gestern abend an Annelie Lehmann geschrieben hatte. Vielleicht würde es sie ablenken, ihn noch einmal durchzulesen.
Versailles, 1. September 1870
Meine liebe Freundin!
Es ist mehr als zwanzig Jahre her, daß ich von Ihnen hörte, um so erstaunter war ich über Ihren Brief.
Nein, ich wußte nicht, daß Ihr Mann im letzten Jahr gestorben ist, und es tut mir sehr leid, daß er – und Sie mit ihm – so lange leiden mußte.
Und nun also Ihr Enkelsohn, der dieselben Symptome zeigt. Ich habe Ihren Brief und den Bericht, den Sie mir über den Verlauf seiner Krankheit beifügten, sehr aufmerksam studiert und mich auch mit meinem Schwiegersohn besprochen.
Übereinstimmend kamen wir zu der Ansicht, daß Sie ihm Belladonna verabreichen sollten. Ich füge auf separatem Bogen eine genaue Dosierungsanweisung bei.
Nun zu Ihren Fragen, was meine Person betrifft. Nach den Wirren der Revolution von 1848 wagte ich den Schritt und fing wieder an zu praktizieren. Meine Gegner hatten keine Macht mehr, und der neuen Regierung gehörten immerhin fünf Politiker an, die zu den Anhängern oder doch zumindest zu den Befürwortern der Homöopathie zählten. Wie früher schon behandelte ich Leute aus der Unterschicht kostenlos, in anderen Fällen fungierte ich offiziell als Beraterin. Sie kennen ja das Problem: Mir fehlt die Legitimation, denn Frauen dürfen nicht als Ärzte arbeiten. Doch von den geringen Honoraren, die ich als Beraterin erhalte, kann ich mehr schlecht als recht leben.
Dann, im Frühsommer 1851 – mein Gott, das ist nun auch schon wieder fast zwanzig Jahre her! – kam Sophie Bohrer als Pflegetochter zu mir. Als kleines Mädchen, kaum daß sie mit ihrem Näschen bis zur Tischkante reichte, hüpfte sie einmal auf einem unserer Feste auf Samuels Knien herum, lachte und sang mit ihm und half die Büste
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