Hahnemanns Frau
hat die Nummer 270.«
»Ach?« Einen Moment war Mélanie verdutzt. »In Paris kommen die Ärzte zu den Patienten, nicht umgekehrt.«
»Bei uns auch, gnädiger … gnädige Frau, aber Dr. Hahnemann ist …« Er zögerte, bevor er den Satz zu Ende sprach. »Nun, er ist eben anders als die anderen Doktoren.«
»Na gut. Es macht mir nichts aus, zu ihm hinzugehen – gibt es noch etwas zu essen und kann man es mir aufs Zimmer bringen?«
»Ich werde in der Küche Bescheid sagen.«
Mélanie bedankte sich, schloß die Tür hinter dem Mann und ging zum Fenster, um in die Dämmerung hinauszusehen. Gegenüber war eine Häuserzeile mit zwei, manchmal auch drei Stockwerken. Eine Schusterwerkstätte, einen Wagner konnte sie im fahlen Dämmerlicht erkennen, und dort drüben befand sich ein Krämerladen.
Das Gasthaus lag an einer Kreuzung. Mélanie hatte das Eckzimmer im oberen Stock und somit Ausblick auf beide Straßen. Sie ging zum anderen Fenster und sah nach rechts hinaus. Dort machte sie eine Reihe von Bäumen aus, dahinter eine Scheune oder eine Lagerhalle.
Das also war Köthen! Ein Marktplatz, einige kleinere Handwerksbetriebe, ein paar Kirchen, zwei Wehrtürme – und all das inmitten einer Landschaft, die so flach war, daß sich der Blick am Horizont verloren hätte, gäbe es da nicht all diese Obstbäume, welche die Stadt wie Soldaten umzingelten, und die zahlreichen Windmühlen, deren Flügel sich behende im Wind drehten.
Dann war da noch das Schloß am Rande der Stadt, ein großes Gebäude mit drei seltsamen Türmen, die runde Kuppen hatten, welche an ausgestreckte Finger erinnerten – Finger, die mahnend in den Himmel zeigten.
»Dort residiert der Herzog von Sachsen-Anhalt-Köthen«, hatte ihr ein Mitreisender erklärt. »Seit im August vor vier Jahren Herzog Ferdinand verstarb, ist es sein Bruder Heinrich. Die große Kirche davor heißt St. Jakob, und dort drüben, die kleinere mit dem Dachreiter, das ist die Agnus-Kirche.«
Mélanie seufzte, nahm die Perücke ab, schlüpfte aus Frack und Westen und fing an, ihre Koffer auszupacken. Sie hätte dazu ein Mädchen kommen lassen können, aber sie wollte sich zuerst der Männerkleider entledigen.
Es war kühl, deshalb wählte sie das dunkelblaue Hauskleid aus Samt, das sie am Abend vor Sabines Tod getragen hatte. Sabine – nun lag ihre unglückliche junge Freundin schon so viele Tage unter der Erde. Mélanie hoffte, daß sich Sabines Traum erfüllt hatte und es ein Leben mit ihren Lieben in einer anderen, besseren Welt für sie gab!
Als Mélanie umgekleidet war, klingelte sie nach dem Mädchen. Die junge Frau, die hereinkam, hieß Magdalena und trug ihr rotes Haar unter einer blütenweißen Haube. Mélanie steckte ihr ein gutes Trinkgeld zu, gab ihr einige Kleidungsstücke, die sie säubern sollte, und ließ sie das vorbestellte Essen holen. Während Magdalena Teller, Schüsseln und ein Glas mit weißem, saurem Wein auftrug, fragte Mélanie: »Sag mir, was erzählen sich die Leute über Dr. Hahnemann?«
Das Mädchen wollte nicht so recht mit der Sprache herausrücken, aber schließlich antwortete sie: »Die einen sagen, daß er ein guter Arzt ist, besser als alle anderen Doktoren. Die anderen behaupten, er sei ein Hexenmeister. Als er vor etwa dreizehn Jahren nach Köthen kam, erzählten sich die Leute die schlimmsten Dinge über ihn, und es passierte einige Male, daß ein Stein durchs Fenster in sein Zimmer flog. Seine Frau – Gott hab sie selig, denn sie ist vor vier Jahren gestorben – und seine Töchter sind nur selten ausgegangen, höchstens zum Markt oder ab und zu in die Kirche. Manchmal besuchten sie auch einige hohe Herrschaften im Ort, oder sie gingen ins Schloß zu einer der Feierlichkeiten, wenn sie dort eingeladen waren. Aber seit seine Frau nicht mehr lebt, verläßt der Herr Geheimrat Dr. Hahnemann sein Haus und den Garten dahinter so gut wie nie. Manche nennen ihn deshalb den Einsiedler. Ja, so reden die Leute, aber ich denke …«
Sie brach ab und sah verlegen zu Boden. Mélanie mußte sie drängen, um zu erfahren, was sie selbst dachte.
»Ich denke, wenn sich doch der Herzog Ferdinand, Gott hab ihn selig, von ihm hat behandeln lassen, dann muß ja alles mit rechten Dingen zugehen. Bestimmt hätte unser Herzog Ferdinand niemals einen Hexenmeister nach Köthen geholt!«
Mélanie nickte. »Du hast ein kluges Köpfchen, Magdalena, das gefällt mir. Bestimmt kann ich mich auch darauf verlassen, daß du über mich nicht klatschen
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