Hahnemanns Frau
Hahnemann sah sie verwundert an. Soweit er wußte, war es auch in Frankreich für eine alleinstehende Frau äußerst schwierig, einen eigenen Haushalt zu führen, und im allgemeinen war das auch gar nicht von Interesse für die Damen der Gesellschaft, denn sie definierten sich über einen Ehemann. »Sie sind nicht verheiratet?« fragte er deshalb mit erstauntem Unterton. »Und Sie sind alleine gereist? Von Paris bis hierher? Achtzehn Tage lang?«
Wieder nickte Mélanie. »Allerdings hatte ich mich als Mann verkleidet.«
»Ach!« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Sie müssen eine mutige, starke und kluge Frau sein – und was führt Sie zu mir?« Er rückte einen der Stühle an den Schreibtisch und bat sie, sich zu setzen.
»Ich verspüre immer wieder einen scharfen stechenden Schmerz in der rechten Unterbauchseite. Es dauert nie lange, aber zuweilen ist der Schmerz so heftig, daß es mir unmöglich ist, mich auf den Beinen zu halten und meine Arbeit zu tun. Hinzu kommt, daß ich manchmal unter Schwermut leide, mich zu nichts aufraffen kann. Seit drei Jahren habe ich kein Bild mehr gemalt. Mein Arzt, Dr. Doyen, wollte meine Krankheit als Nervenstörungen abtun und durch Ansetzen von Blutegeln heilen. Ich selbst möchte mich allerdings weder als hysterisch bezeichnen, noch kann ich mir vorstellen, daß sich durch Aussaugen von Blut etwas an meinem gesundheitlichen Zustand verändern würde. Außerdem habe ich zu viele meiner Freunde in der Obhut ihrer Ärzte sterben sehen, als daß ich noch bereit sein könnte, mich in solch zweifelhafte Behandlung zu begeben.«
Mélanies Lippen begannen zu zittern, einen kurzen Moment schien sie die Trauer zu überwältigen, aber dann faßte sie sich wieder und schluckte alle Tränen hinunter.
»Zuletzt verlor ich einen lieben Menschen auf der Reise hierher – eine junge Frau, die an Kummer, Einsamkeit und dem endlosen Abzapfen ihres Blutes starb. Viermal wurde sie zur Ader gelassen, während sie krank und schwanger war, noch weitere viermal nach der Geburt und dem Tod ihres neugeborenen Kindes. Zudem nötigte man sie zur Einnahme schädlicher Medikamente und zwang sie bei allem auch noch wegen einer Erbschaft, diese anstrengende Reise zu unternehmen. Jetzt liegt sie in Luxembourg begraben.«
Dr. Hahnemann hatte ihr aufmerksam zugehört, hin und wieder genickt und dabei an seiner Pfeife gezogen. Sie war ausgegangen, aber das schien ihn nicht sonderlich zu stören. »Ich sehe, es gab genug Gründe für Sie, diese weite Reise zu wagen – und wer hat mich Ihnen empfohlen?«
»Sie selbst.« Mélanie lächelte. »Ich habe zwei Ihrer Bücher aufmerksam studiert. Das Werk über Die chronischen Krankheiten und das Organon. Als ich es gelesen hatte, war mir, als sei die Sonne am Himmel der Medizin aufgegangen, und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß, wenn überhaupt, dann nur Sie mir helfen können.«
Nun sank seine Hand, die, in der er die Pfeife hielt, in seinen Schoß, und er sah die junge Frau in maßlosem Erstaunen an. »Sie haben tatsächlich beide Bücher gelesen?«
»Sonst würde ich es nicht sagen.«
Er schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Verzeihen Sie meine Verwunderung, aber … nun ja, zwar erwarte ich von meinen Patienten, vorausgesetzt, sie sind gebildet genug, daß sie sich auf eine Behandlung bei mir vorbereiten, indem sie das Organon lesen. Für gewöhnlich aber studiert keiner von ihnen auch noch freiwillig Die Chronischen Krankheiten.«
»Nun, es fiel mir nicht schwer, wäre ich doch allzu gerne selbst Arzt geworden, wenn es die Gesetze erlauben würden.« Mélanies Stimme klang bitter. »Schon als Kind träumte ich davon, Lebewesen zu heilen. Mit acht Jahren sezierte ich zum Entsetzen meiner Mutter tote Vögel, um das Innere ihres Körpers zu sehen. Meinem Vater lag ich beständig in den Ohren, er solle mir die Funktion der Organe erklären. Als ich zwölf war, rettete ich das Leben eines Freundes meines Vaters, der durch Opium vergiftet worden war. Während der Arzt ihn auf eine Magenverstimmung hin behandelte und dann ein Tuch über den Schädel seines Patienten warf – mit der Begründung, er sterbe an Blutandrang nach dem Kopf! –, kochte ich einen Absud aus Lattich, den ich dem Kranken einflößte und der ihn langsam wieder ins Leben zurückholte.« Mélanie seufzte. »Aber was helfen mir solche Ambitionen und eine gewisse Begabung! Leider bin ich eine Frau!«
»Ich fände es allerdings schade, wenn aus so einem reizenden
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