Hahnemanns Frau
mit ihm und Dr. Lehmann diese Fälle. An anderen Tagen half sie bei der mühsamen und langwierigen Aufbereitung der Medikamente oder legte Listen an und wertete Mittelprüfungen aus. Auch las sie seinen Aufsatz über die Behandlung der Cholera, der 1831 erschienen war, die fünfte, stark erweiterte Auflage des Organon – die vierte kannte sie ja bereits in der französischen Übersetzung – und zum zweiten Mal Die Chronischen Krankheiten, sein umstrittenstes Werk.
Oft wenn er hereinkam und sie in ihrem Sessel am Fenster sitzen sah, mit diesem Buch auf dem Schoß, dessenthalben sich sogar seine beiden langjährigen Wegbegleiter Dr. Groß und Dr. Stapf von ihm distanziert hatten, seufzte er leise vor Glück. Meist war sie ganz versunken beim Lesen und hatte Denkerfalten auf der Stirn, oder ihre Lippen bewegten sich und murmelten leise Worte vor sich hin, die wie Perlen aus ihrem Mund fielen. Worte wie Psora und Syphilis, die so Schreckliches umfaßten und doch aus ihrem Munde wie kleine Zärtlichkeiten klangen. Und wenn er sie dann ansprach, sie aufsah und eine Frage an ihn richtete, erkannte er aufgrund dieser Frage, daß sie das Gelesene auch verstanden hatte und nicht nur ihm zuliebe vorgab, es zu verstehen.
So sehr ihn die Schönheit, die weiblichen Reize und die hingebungsvolle Liebe seiner jungen Frau im Herzen auch bewegten: die Tatsache, daß sie zu den ganz wenigen Menschen zählte, die seinen Gedankengängen folgen konnten, daß er in ihr eine verwandte Seele und einen ebenbürtigen Geist gefunden hatte, bedeutete ihm noch sehr viel mehr. Das war sein wirkliches und wahres Glück!
An anderen Tagen, wenn Mélanie lachend durchs Haus lief, ihm Tanzschritte beibrachte, mit ihm Opernarien sang oder sie gemeinsam musizierten, war ihm, als würde sie neuen Atem in ihn hineinhauchen. Göttlicher Odem aus ihrem zärtlichen roten Mund! Lebenskraft für ihn, den alten Mann, der dank ihrer Liebe zusehends jünger wurde. Der neuen Kampfgeist entwickelte, Pläne schmiedete. Wie wäre es zum Beispiel, seine Krankenjournale zu ordnen und die wichtigsten Fälle zu einem Werk zusammenzufassen? Er könnte diese Arbeit mit Hilfe eines Kollegen tun – mit Georg Heinrich Jahr zum Beispiel, einem ehemaligen Schüler, der ihm ans Herz gewachsen war. Oder … ja, warum nicht gar gemeinsam mit Mélanie?
Paris
Paris, August 1835
Ein Blick auf die Kaminuhr sagte ihr, daß es gleich Mitternacht sein würde. Mélanie legte ihr Buch beiseite und ging hinüber in das Arbeitszimmer ihres Mannes.
Sie stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Was schreibst du denn so lange? Wir sollten zu Bett gehen.«
»Den Brief an Georg Heinrich Jahr. Ich bin gleich fertig.« Er streute Löschsand auf das letzte Blatt Papier und lächelte, als seine Frau ihm die kalte Pfeife aus der Hand nahm und in den Ständer stellte.
»Möchtest du, daß ich ihn dir vorlese?« fragte er.
»Bist du denn nicht zu müde?«
»Aber nein. Nur die Augen vielleicht …«
»Dann lese ich dir den Brief vor.«
Sie setzten sich ans Feuer, und Mélanie begann:
Verehrter Freund!
Mit großer Freude habe ich Ihre Zeilen gelesen. Vor allem, daß Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, Lüttich zu verlassen und in Paris zu leben, nehme ich mit großer Genugtuung zur Kenntnis. Selbstverständlich werde ich Sie dabei unterstützen, Ihr kleines Repertorium zu erweitern und eine homöopathische Zeitschrift zu veröffentlichen. Ob es Ihnen allerdings möglich sein wird, sich hier als Homöopath niederzulassen, bleibt dahingestellt. Auch mir hat man bisher noch keine Genehmigung zum Praktizieren erteilt, obwohl ich diese bereits vor einigen Wochen beantragt habe.
In Ihrem Brief erkundigten Sie sich, wie es mir auf meiner Reise nach Paris und in den ersten Tagen meines Aufenthalts in meiner neuen Heimat erging. Hier meine Antwort:
Am frühen Morgen des 7. Juni d.J. auf den Tag genau vierzehn Jahre nach meiner Ankunft dort, verließ ich, an der Seite meiner lieben Frau Mélanie, Köthen. Wir reisten per Postkutsche. Vor der Abfahrt änderte ich noch mein Testament und teilte mein gesamtes Vermögen unter meinen Kindern und Enkelkindern auf, in der Hoffnung, damit Erbschaftsstreitigkeiten zu umgehen und den bösen Zungen, die meiner Frau nachsagen, sie hätte es auf mein Geld abgesehen, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nur meine Bücher, meine Uhren und ein paar andere persönliche Gegenstände nahm ich mit.
Meine Töchter Luise und Charlotte
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