Hahnemanns Frau
war es still im Raum. Niemand bewegte sich. Die Eltern des todkranken Kindes sahen den alten Arzt nur an. Dann nickte Ernst Legouvé plötzlich. »Alles wird gemacht, wie von Ihnen gewünscht. Auch wenn wir es nicht tun, wird unsere Kleine sterben. Die Hoffnung, daß Sie noch helfen könnten, ist alles, was wir haben.«
Als Samuel wieder kam, ging es dem Kind etwas besser. Es war nicht mehr ganz so erhitzt und ausgetrocknet. Die Kleine röchelte, der Puls war kaum zu fühlen, und als Samuel ihr den Mund öffnete, entdeckte er einen grauweißen Belag auf der Mundschleimhaut und im Rachen. Auch die Lymphknoten in den Kieferwinkeln waren geschwollen und die Milz etwas vergrößert. Er war sicher, das Mädchen litt an Diphtherie.
Große Sorgen bereiteten ihm die Herzrhythmusstörungen und der kaum noch fühlbare Puls.
Er besprach sich kurz mit Mélanie, die die ganze Zeit hinter ihm gestanden hatte, machte Bemerkungen zu den Symptomen, die ihm aufgefallen waren, begründete die Wahl der Arznei, um die er sie dann bat, und flößte dem Kind einen Teelöffel davon ein.
»Diese Arznei geben Sie ihrer Tochter stündlich. Mehr können wir jetzt nicht tun – wir müssen abwarten.« Damit stand Samuel auf, sah den vom Kummer schier verzweifelnden Eltern lange in die Augen, nickte dann und verließ mit Mélanie das Haus.
Am Abend kam er wieder, dann am nächsten Morgen. Jedesmal nickte er und sagte: »Gut, wir haben wieder einen Tag gewonnen.«
Auch den Vater, der an starken Kopfschmerzen litt, behandelte er, und der Mutter verschrieb er vor allem gutes Essen und regelmäßigen Schlaf.
Am zehnten Tag erlebte das Kind nochmals eine Krise. Die Hahnemanns kamen um acht Uhr abends und wurden wie immer vom Hausmädchen in das Zimmer der Kranken gebracht. Samuel blieb lange am Bett seiner kleinen Patientin sitzen, beobachtete jede Regung und untersuchte den Körper von Kopf bis Fuß. Besorgt stellte er fest, daß die Beine gelähmt waren, und den Puls konnte er kaum noch fühlen. Schließlich gab er dem Kind Lycopodium und sagte zum Vater: »Achten Sie sorgfältig darauf, ob der Puls bis ein Uhr kräftiger wird. Ich komme gleich morgen früh und sehe nach ihr.«
Er stand auf, ging zu Madame Legouvé, nahm sie mit väterlicher Fürsorge in den Arm und sah ihr fest in die Augen. »Verlieren Sie nicht den Mut. Die Kleine war längst aufgegeben, trotzdem haben wir bereits zehn Tage gewonnen.«
»Aber jetzt sind auch noch die Beine steif – ist das schon die Todeskälte, die unser Liebstes erstarren läßt?« Tränen quollen aus den Augen der verzweifelten Frau.
»Nein. Lähmungserscheinungen kommen bei Diphtherie vor. Glauben Sie an den Überlebenswillen Ihrer Tochter! Sie braucht jetzt alle Kraft, die Sie ihr geben können. Wenn sie diese Krise überstanden hat, ist sie endgültig über den Berg.«
Ein langgezogener Jammerlaut, ein gequältes Schluchzen war ihre Antwort. Seufzend nahm Samuel seine Tasche, dann ging er hinter Mélanie her zur Kutsche, und die beiden fuhren schweigend nach Hause.
Als sie am nächsten Morgen wiederkamen, lief ihnen nicht wie sonst das Hausmädchen, sondern die Hausfrau selbst entgegen. Sie breitete die Arme aus und fiel Samuel weinend um den Hals. »Monsieur le Docteur, sie hat es geschafft! Sie hat es tatsächlich geschafft!«
»Ja, aber warum weinen Sie denn dann?« Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Weil ich so glücklich bin! Ich hätte mein eigenes Leben gegeben für das Leben meines Kindes … und jetzt …«
»Jetzt ist es auch ohne diesen Tausch gegangen.« Samuel klopfte ihr auf die Schulter.
Madame Legouvé umarmte auch Mélanie. »Auch Ihnen müssen wir danken! Mein Gott, ich weiß gar nicht, wie!«
Während sie nach oben gingen, erzählte Madame Legouvé, was sie am Vorabend erlebt hatten. »Als Sie fort waren, setzte sich mein Mann ans Bett, hielt den Arm unserer Tochter und ließ ihn keine Sekunde mehr los. Um elf Uhr kam es ihm vor, als hätte er eine leichte Veränderung des Pulses wahrgenommen. Er rief sofort nach mir, denn ich hatte mich ein wenig hingelegt. Zusammen schauten wir nun auf die Uhr und zählten die Pulsschläge. Tatsächlich, der Puls war stärker! Noch wagten wir allerdings nicht, unserer Wahrnehmung wirklich zu glauben. Wir zählten wieder und wieder, und dabei gerieten unsere eigenen Herzen immer mehr außer Rand und Band. Schließlich waren wir sicher, und wir fielen uns weinend vor Glück in die Arme.«
Die drei waren oben angekommen. Madame
Weitere Kostenlose Bücher