Hahnemanns Frau
den letzen Monaten vor meiner Abreise aus Köthen mit einer neuen Methode zur Verabreichung homöopathische Arzneien experimentiert. Ich bin der Meinung, daß es besser ist, die Mittel nicht trocken zu geben, da sie flüssig mehr Nervenenden im Körper erreichen können. Ich löse deshalb die potenzierten Arzneien in einer Mischung von Wasser und Alkohol auf, wovon der Patient dann täglich einen Teelöffel voll einnimmt. Vorher muß die Flasche aber kräftig geschüttelt werden, denn auf diese Art erhöht sich die Potenzierung jedesmal leicht, was zur Folge hat, daß niemals exakt die gleiche Potenz eingenommen wird. Ich habe die Arzneien, seit ich in Paris bin, nur noch auf diese Weise verabreicht und damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Trotzdem experimentiere ich weiter. Wir setzen inzwischen viel höhere Potenzen ein als früher. Charles ist gerade dabei, eine Reihe von Arzneien bis zur 200 { * } zu potenzieren.
Über diese Dinge mehr, wenn Sie hier sind. Gerne können Sie dann auch in unsere Krankenjournale Einblick nehmen.
Zum Schluß noch eine traurige Nachricht. Der berühmte Bildhauer David schuf zwei Büsten von mir. Eine steht in unserem Salon – meine Gattin liebt sie beinahe so sehr wie mich und streichelt sie immer, wenn sie daran vorbeikommt. Die zweite habe ich Henry Detwiller und Constantin Hering zur Ausstattung der Allentown Academy in Pennsylvania versprochen – dabei handelt es sich um die erste homöopathische Ausbildungsstätte der Welt, die diese beiden Herren in Amerika vor etwa zwei Jahren gründeten. Als die Büste nun fertig war, schiffte ich sie wie versprochen ein, jedoch ging das Schiff unter und die Büste verloren. Nun liegt also mein Abbild irgendwo auf dem Grund des Meeres und dient den Fischen zur Erheiterung oder als Unterschlupf, wenn sie sich vor Feinden verstecken müssen. Man stelle sich vor, in einigen hundert Jahren hätte irgendein Verrückter eine Technik entwickelt, die ihm ermöglichte, in die Tiefen der Meere hinabzutauchen, und dort fände er ausgerechnet mich … nun ja, ein Abbild von mir. Vielleicht hielte er mich gar noch für einen Kaiser oder sonst ein hohes Tier!.
Nun bleibt mir nur noch, Ihnen eine gute Reise zu wünschen, und kommen Sie wohlbehalten bei uns an. Auch meine Gattin läßt Sie herzlich grüßen, und so verbleibe ich als Ihr ergebener
Samuel Hahnemann
Er faltete den Brief zusammen, versah ihn mit von Bönninghausens Adresse, versiegelte ihn und legte ihn dann zur übrigen Post, die der Kutscher morgen früh zur Poststation bringen würde.
Inzwischen war es 22 Uhr. Bestimmt war Mélanie bereits zu Bett gegangen und wartete auf ihn. Er stand auf, wollte gerade sein Arbeitszimmer verlassen, als laut gegen die Haustür gepocht wurde. Kurz danach waren auf der Treppe Schritte zu hören, dann die Stimme Jeans, des Hausdieners.
»Qu'est ce qui est là? Wer ist da?«
»Amaury Duval – ich muß Dr. Hahnemann sprechen! Es ist sehr dringend!«
Samuel wunderte sich. Amaury Duval war ein guter Freund der Familie. Warum kam er unangemeldet und mitten in der Nacht? Etwas mußte passiert sein!
Er trat auf den Flur. »Öffne, Jean«, sagte er und zu Mélanie, die im selben Moment aus dem Schlafzimmer kam: »Es ist Amaury Duval.«
Als Jean die Verrieglung zurückgeschoben und die schwere Tür aufgezogen hatte, stürmte ein kleiner, dunkelhaariger Mann herein. Er war um die Dreißig, hatte einen sehr auffälligen Schnauzbart und eine etwas schiefe, knorpelige Nase. Als er Samuel auf der Treppe sah, ging er mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie die späte Störung, Dr. Hahnemann, aber es geht um Leben und Tod!«
»Kommen Sie, Duval, wir gehen in den kleinen Salon.« Samuel sah nach oben und stellte fest, daß Mélanie sich wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, bestimmt wollte sie sich nur rasch umkleiden und würde dann zu ihnen kommen. Er schob den Freund vor sich her, schloß dann die Tür hinter ihm und bot ihm einen Platz an.
»Nun, was gibt es?«
»Man hat mich am frühen Abend zu Ernst Legouvé gerufen …«
»Sie meinen Ernst Legouvé, den Schriftsteller?«
»Ja, er hat eine ganz reizende vierjährige Tochter mit blondem, langem Engelshaar und wunderschönen blauen Augen. Doch vor etwa einem Monat ist das Mädchen schwer erkrankt. Alles fing mit Halsschmerzen an, und man dachte, sie sei erkältet. Dann jedoch kamen Übelkeit mit Erbrechen hinzu, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Fieber … Verschiedene Ärzte
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