Hahnemanns Frau
davon überzeugt war, daß die Zeit reif dafür war, die Öffentlichkeit an seinen neuen Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Man hatte ja noch nicht einmal die höheren C-Potenzen akzeptiert! Aber er war nun fast 84 Jahre alt und wußte, daß auch er nicht ewig leben würde. Wenn er nicht anfing, seine Erfahrungen aufzuzeichnen, dann würde er sie vielleicht eines Tages mit ins Grab nehmen. Doch das war ein Thema, über das er mit Mélanie nicht offen reden konnte. Jeden Gedanken an seinen möglichen Tod blockte sie sofort ab.
Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Ich dachte, wo ich doch ohnehin gerade mit Jahr über den Krankenberichten sitze und alles ordne, sei die Gelegenheit günstig. Ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – meinst du nicht?«
»Doch, natürlich.« Sie küßte ihn auf die Nase. »Wenn du dich nur nicht überanstrengst und noch ein wenig Zeit für mich übrig hast.«
Er lachte. »Wir teilen es auf. Die erste halbe Nacht für die Homöopathie, die zweite halbe Nacht für dich.«
Mélanie seufzte und versuchte sich an einem Lächeln. »Und wann willst du dann schlafen?«
»Na, nun sei nicht so ängstlich!« Er zwickte sie liebevoll in die Wange. »Du kannst nicht immer alles von mir fernhalten und mich behandeln wie ein rohes Ei. Du wirst sehen, alles wird gut!«
Eine wunderbare Frau
Als Georg Jahr den letzten Patienten verabschiedet hatte und in Samuels Arbeitszimmer erschien, fand er ihn über einen Brief gebeugt.
»Einen schönen guten Abend, mein Lieber.« Samuel sah den großen blonden Mann mit den blauen Augen und den buschigen Augenbrauen an und nickte freundlich. »Ich bin gleich soweit. Ich schreibe einen Brief an meine Töchter Charlotte und Luise.«
»Dann richten Sie doch bitte auch von mir einen herzlichen Gruß aus.«
»Das werde ich tun.« Er lächelte, denn er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie gerne Charlotte den jungen Mann gesehen hatte, damals, als er acht Monate bei ihm in Köthen hospitierte. Und später, als er eine Stelle als Leibarzt bei der preußischen Prinzessin Friedrich in Düsseldorf antrat, hatte sie es kaum verwunden, daß er nicht um ihre Hand anhielt und sie mitnahm. Aber das alles lag viele Jahre zurück, und Charlotte würde es ihm wohl inzwischen verziehen haben.
Weil er nie einen Brief verschloß, ohne ihn nach Fehlern durchzusehen, las er auch diesen noch einmal. Dabei bewegten sich seine Lippen leise murmelnd.
Paris, am 9. Februar 1843
Luise und Charlotte, meine lieben Töchter!
Euren Neujahrsgruß habe ich dankend erhalten. Es freut mich, daß es Euch gut geht und ihr mit meiner Enkelin Angeline und meinem kleinen Urenkel, den ich sehr gerne einmal kennenlernen würde, eine gute Zeit hattet. Daß der Kleine etwas kränkelt, tut mit sehr leid, aber ich glaube, bei Freiherr von Gersdorff sind Mutter und Kind in guten homöopathischen Händen.
Was mich betrifft, ich strotze vor Gesundheit, und das, obwohl es mitten im Winter ist und alle Welt sich mit den üblichen Erkältungen herumschlägt.
Auch privat geht es mir ausgezeichnet! Zwar ist mein Leben angefüllt mit Arbeit – ich habe so viele Patienten und eine so große Schar von Schülern, daß ich fast jeden Tag arbeite und nur die großen Feiertage einhalten kann –, aber auch das Vergnügen kommt nicht zu kurz. Nie hatte ich so viele interessante, aufgeklärte und gebildete Freunde. Menschen aus ganz Europa gehen bei uns ein und aus, viele von ihnen sind große Künstler, Literaten und Politiker.
Im Sommer gehen wir an schönen Abenden regelmäßig zum Arc de Triomphe und von dort wieder nach Hause und kehren unterwegs bei ›Tortoni‹ ein, um ein Eis zu essen – das ist eine wunderbare süße Köstlichkeit, die aus Italien stammt. Und jeden Donnerstagabend gehen wir bis Mitternacht mit Mélanies Vater d'Hervilly in die italienische Oper. Am letzten Donnerstag, als Mélanie Geburtstag hatte, nahmen wir auch Charles, Éa, deren Mann und Sébastien Colbert, einen guten und treuen Freund, mit. Es wurde ›Nabucco‹ gegeben – die Oper eines jungen Italieners namens Verdi. Dabei ging es um das Schicksal der Juden während der babylonischen Gefangenschaft. So ›schwere‹ Unterhaltungskost kommt den Parisern nicht unbedingt entgegen – wir waren jedoch hingerissen von der Musik dieses äußerst talentierten jungen Mannes.
Neben dem Vergnügen, in die Oper zu gehen, hören wir auch Konzerte, sehen Ausstellungen, führen interessante Gespräche,
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