Hahnemanns Frau
und so vergeht kein Tag, an dem ich Zeit hätte, mich zu langweilen.
Auch gesundheitlich habe ich nichts zu klagen. Sieht man von der regelmäßig im Frühjahr wiederkehrenden Bronchitis ab, die ich im allgemeinen mit Bryonia ganz gut in den Griff bekomme, habe ich nicht die geringste Krankheit und auch nicht die kleinste Gedächtnisschwäche. Erst kürzlich schrieb man über mich, daß ich aussehe wie ›ein grüner Sechziger‹.
Das habe ich aber nicht alleine meiner guten Konstitution und der Homöopathie zu verdanken, sondern auch meiner lieben Frau, die sich um mich sorgt und mich pflegt wie andere ihr liebstes Pflänzchen im Garten.
Ihr seht also, ich genieße das Leben, und ich habe auch vor, es mir weiterhin so gut gehen zu lassen. Nach all den Verleumdungen und Schmähungen der früheren Jahre habe ich mir ein wenig Anerkennung, Liebe und Wohlstand verdient.
Ihr habt Euch nach meiner Arbeit erkundigt, insbesondere nach der sechsten Auflage des ›Organon‹ und wann sie nun endlich erscheinen würde. Ich habe diesbezüglich so lange geschwiegen, weil ich überhaupt nicht sicher war, wie ich in der Sache weiter verfahren sollte. Geschrieben ist die sechste Auflage längst, das wißt Ihr ja. Ich habe auch bereits mit meinem deutschen Verleger Schaub verhandelt, und selbst von einer französischen Ausgabe war die Rede – doch nun habe ich alles rückgängig gemacht! Nein, ich werde die sechste Auflage nicht veröffentlichen – noch nicht! Die Zeit ist nicht reif dafür, die Kontroversen um die Homöopathie sind noch zu groß. Außer Mélanie, Charles und Georg Jahr habe ich, was die neue Methode der Aufbereitung meiner Arzneien betrifft, so gut wie niemanden hinter mir stehen. Selbst mein alter und vielleicht bester Freund von Bönninghausen hat, als ich ihm gegenüber meine Ideen ansatzweise durchscheinen ließ, nur mit Zweifel und Widerständen reagiert. Wir warten ab. Man kann eben eine Kirsche nicht vor der Blüte ernten.
Georg Jahr gibt jetzt eine homöopathische Zeitschrift heraus und hat damit erst einmal genug zu tun, und ich will mich wieder ein wenig mehr meinen Schülern und Patienten und vor allem meiner geliebten Frau widmen. Sie hat übrigens jetzt ihr Diplom als Homöopathin erhalten. Constantin Hering von der Allentown Homoeopathic Academy in Amerika hat es ihr ausgestellt. Natürlich ist mir bewußt, daß es hier in Frankreich keinen großen Wert hat, zumal ihr die medizinische Qualifikation fehlt – aber es ist immerhin etwas. Ich verstehe nicht, warum Frauen nicht studieren und nicht praktizieren dürfen. Es heißt, sie seien intellektuell nicht fähig zu höheren Berufen, dabei ist Mélanie so manchem Mann geistig haushoch überlegen und zudem der beste Homöopath, den ich kenne. Aber bei wem klage ich – Ihr beide wißt, wovon ich spreche. Ihr habt Euer Leben ja auch der Homöopathie verschrieben und konntet Eurer Berufung nicht gerecht werden, aus dem einzigen Grund, weil Ihr Frauen seid.
Nun möchte ich Euch noch bitten, alle ganz herzlich von mir zu grüßen. Die Lehmanns, die Nachbarn und alle, die mich kennen und sich über einen Gruß von mir freuen. Ganz besonders umarmt mir Angeline und den Kleinen. Auch Ihr seid herzlich umarmt von Eurem Vater, der Euch vermißt.
Samuel griff noch einmal zur Feder und setzte ein Postskriptum unter den Brief.
PS: Auch der gute Jahr läßt Euch einen lieben Gruß ausrichten. Er sitzt mir gegenüber, und sieht man davon ab, daß er etwas überarbeitet ist, scheint es ihm bestens zu gehen.
Samuel verstreute Löschsand auf dem Papier, faltete den Brief, versah ihn mit einem Siegel und legte ihn beiseite. Dann griff er nach seiner Pfeife stopfte sie, zündete sie an und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Nun, was gibt es, mein Lieber?«
»Heute kam eine junge Frau zu uns, die an Epilepsie leidet. Sie erlitt gestern einen Anfall. Es war auf einer Abendgesellschaft von Madame Michelon, und die riet ihr hierherzukommen. Als sie hörte, daß sie in absehbarer Zeit keinen Termin bei Ihnen bekommen kann, war sie bereit, es mit mir zu versuchen, zumal ich ihr versicherte, daß ich all meine Fälle mit Ihnen bespreche.«
Samuel nickte. »Und was war das Ergebnis der Anamnese?«
»Da sie vor den Spasmen heftigen Schluckauf hat und boshaft und mürrisch ist, und auch aufgrund ihrer bläulich marmorierten Haut, gab ich ihr Cuprum metallicum und ordnete an, sie solle es alle zwei Stunden nehmen.«
Wieder nickte Samuel. »Ich hatte einmal
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