Hahnemanns Frau
flehte sie Samuel an, aber er wies sie ärgerlich zurecht. »Wenn du es nicht kannst, wenn wir beide es zusammen nicht können, wer sollte mir dann noch helfen?«
»Hast du deinen Schülern nicht immer wieder gesagt, sie sollen sich niemals selbst behandeln? Weil man bei sich selbst die wesentlichen Unterschiede nicht erkennen kann? Weil man mit Blindheit geschlagen ist, wenn es um die Gemütssymptome geht?«
»Aber du bist doch …«
»Was verlangst du von mir!« nahm sie ihm das Wort aus dem Mund und sprang auf. Einen Moment war sie zornig, aber dann sank sie mit Tränen in den Augen vor ihm auf die Knie, nahm seine Hand und drückte sie gegen ihre Brust. »Ich sterbe vor Angst um dich! Ich schlafe keine Nacht mehr richtig. Mein Kopf ist bleischwer und unfähig zu denken! Wie kann ich dich da behandeln? Wie kann ich einen klaren Gedanken fassen und erkennen, welche Arznei du wirklich brauchst? Wir müssen Hilfe holen!«
»Gut.« Er war endlich einverstanden. »Dann laß Dr. Chatron kommen. Ihm vertraue ich.«
Erleichtert stand Mélanie auf und klingelte nach Rose.
»Bitte schick Eugène zu Dr. Chatron. Er soll ihn herbringen – wenn möglich sofort!«
Als Dr. Chatron endlich kam, war es bereits später Nachmittag. Er besah sich seinen Freund und Kollegen und befragte ihn lange und ausführlich.
»Und Sie haben mit Bryonia behandelt?«
Mélanie nickte. »Ich dachte auch einmal an Arsenicum, aber …«
»Das hätten Sie nehmen sollen!«
»Aber seine Furcht vor dem Tod und der Zukunft, seine Unruhe … Immer öfter hat er nachts im Traum davon gesprochen, daß ich …«
Sie brach ab. Tränen liefen über ihre vom Kummer abgemagerten Wangen. Sie begriff plötzlich, daß sie die Symptome falsch gedeutet hatte. Daß sie aus Angst, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die Augen verschlossen hatte. Sie begriff plötzlich, daß es zu Ende ging mit Samuel.
Charles holte Arsenicum aus der Apotheke. Mélanie gab es Samuel. Eine kurze Besserung trat ein, aber Samuels Lebensgeister waren bereits zu sehr geschwächt.
Dr. Chatron kam am nächsten Morgen wieder. Der Zustand seines Patienten hatte sich nicht wesentlich verändert. Mélanie saß an Samuels Bett und weinte.
Am Nachmittag stand plötzlich Rose neben ihr. »Besuch aus Deutschland ist da, Madame Hahnemann«, flüsterte sie und reichte ihr eine Karte.
Mélanie starrte auf den Namen. Frau Dr. Amalie Süß – Samuels Tochter. »Nein!« Sie sprang auf und verließ mit Rose das Zimmer. »Sag ihr, ihr Vater könne unmöglich Besuch empfangen!«
»Aber sollten Sie denn nicht selbst …«
»Nein, ich will und kann jetzt nicht mit ihr reden. Erklär ihr, daß wir sie holen werden, sobald Monsieur sich gut genug fühlt, jemanden zu sehen.«
Mélanie blieb an der Treppe stehen und hörte, wie Samuels Tochter unten in der Halle in gebrochenem Französisch auf die Haushälterin einredete. Plötzlich schob Amalie Rose zur Seite und ging mit wütenden Schritten an ihr vorbei auf die Treppe zu.
Da trat Mélanie an die Brüstung. »Ich bitte Sie, Madame, Sie sind in meinem Haus. Es geziemt sich nicht …«
»Es geziemt sich nicht, die Tochter eines Sterbenden zurückzuweisen, wenn sie ihren Vater sehen und ihm in seiner letzten Stunde beistehen will!« unterbrach Amalie sie scharf. »Zumal ich tagelang unterwegs sein mußte, um herzukommen!«
Mélanie war ihr entgegengegangen. Nun packte sie Amalie an den Schultern und hielt sie fest.
»Ich bitte Sie, sprechen Sie leise!« Sie sah Samuels Tochter zornig an. »Und reden Sie nicht vom Tod!«
Amalie wollte sie zurückstoßen, doch Mélanie hatte mehr Kraft als vermutet.
»Machen Sie den Weg frei!«
»Nein!« blieb Mélanie fest. Sie sah Amalie verständnislos an. »Was haben Sie vor, um Himmels willen? Wollen Sie hineingehen, sich an seine Brust werfen und ihm sagen, daß er sterben wird? Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, wir werden um sein Leben kämpfen! Und nun gehen Sie! Und lassen Sie Ihre Adresse da! Wir werden Sie rufen, sobald es Ihrem Vater gut genug geht und er Sie sehen will.«
Eine Weile starrten sich die beiden Frauen feindselig an. Dann schüttelte Amalie Mélanies Hände ab und verließ, von ihrem Sohn gefolgt, das Haus ihres Vaters.
Rose schüttelte seufzend den Kopf. »Madame, Sie hätten nicht so hart sein dürfen und Madame Süß wenigstens für einen Moment zu ihrem Vater lassen müssen.«
»Sie war in all den Jahren nicht hier! Niemand hat den Weg nach Paris auf sich
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