Hahnemanns Frau
Leopold waren bereits gegangen. Mélanie legte sich wieder zu ihm und hielt seine Hand. Es war still, nur das Ticken der Uhren war zu hören, die Samuel mit so viel Liebe gesammelt hatte und die auf allen Simsen standen.
Gegen Mitternacht wurde Samuel wieder wach. Er beugte sich zu Mélanie und küßte sie zärtlich auf den Mund. Sie schlug sofort die Augen auf.
»Brauchst du etwas?«
»Nur dich, Liebste.« Es war dunkel im Zimmer, sie konnte ihn nicht sehen, aber sie wußte, er lächelte für sie.
»Du mußt mir noch etwas versprechen. Du darfst die sechste Auflage des Organon nicht veröffentlichen. Nicht jetzt! Es ist zu früh, die Zeit ist noch nicht reif. Wenn sie erfahren, wie hoch wir potenziert haben, werden sie von Demenz und Altersschwachsinn reden und mich für verrückt erklären! Du mußt warten, bis andere Leute den Acker gepflügt haben, bevor du meine Samen säst, und dauert es noch so lange.«
»Ich verspreche es dir.«
»Du versprichst es mir an meinem Totenbett! Es ist mein Letzter Wille!«
Tränen traten über den Rand ihrer Wimpern. »Ja, Liebster – ja, ich verspreche, ich werde erst veröffentlichen, wenn die Zeit reif ist dafür!«
»Das bedeutet, daß auch die Krankenjournale bei dir verbleiben müssen. Hüte sie wie einen Schatz – es ist mein Lebenswerk.«
»Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Ja, das weiß ich.« Seine Lippen suchten ihre. »In dir hat sich alles erfüllt. Kein Mann kann glücklicher sterben.«
Sie umarmten sich und hielten sich fest, bis sie wieder einschliefen.
Noch einmal, im Morgengrauen, wurde Samuel wach. »Wir müssen auch darüber sprechen, was mit mir geschehen soll, wenn ich gestorben bin«, sagte er seiner verzweifelten Frau. »Ich will keine pompöse Bestattung und nicht das heilige Geschwafel eines Priesters. Ich will mein Leben beschließen, wie ich es immer gelebt habe. Ohne Aberglaube, im Spiegel der Vorsehung.« Die Brust wurde ihm eng, er rang nach Atem, hustete bis zur Erschöpfung, sank dann wieder in die Kissen zurück und sah Mélanie an. »Non inutilis vixi – ich habe nicht umsonst gelebt – das sollst du auf mein Grab schreiben.«
»Ja – ja, das werde ich tun.« Weinend hielt sie ihn fest, preßte ihre Stirn gegen seine kühle Wange und seine Hand an ihre Brust.
»Weißt du noch, wie du einmal für mich gesungen hast … Eine Arie aus einer Oper. Mir ahnt, hier liegt ein Geheimnis verborgen …«
»Es war aus Die weiße Dame.«
»Ja, die weiße Dame – auch der Tod ist ein Geheimnis. Unser letztes. Ich werde es jetzt ergründen.«
»Samuel …«
»Sing ein Lied für mich, dieses Lied. Ich will nicht traurig von dir gehen.«
Bilder tauchten aus Mélanies Erinnerung auf. Auch damals, als sie zu Samuel fuhr, war ein Mensch in ihren Armen gestorben. Sabine, dieses liebe, schattenhafte Wesen, so zerbrechlich und voller Sehnsucht nach einer anderen, glücklicheren Welt. Und auch damals hatte sie ein Lied gesungen.
Mit erstickter Stimme begann sie: »Mir ahnt, hier liegt ein Geheimnis verborgen …«
Er schlief wieder ein. Sie lag neben ihm und lauschte wie gebannt auf das Rasseln seiner Bronchien. Mein Gott, du darfst nicht sterben! Vielleicht gibt es doch noch eine Rettung … vielleicht finden wir doch noch eine Arznei …
Die Uhren tickten.
Die Amsel im Garten trällerte ihr Lied.
Das Rasseln verstummte. Einfach so. Kein Hustenanfall mehr. Kein letztes Aufbäumen. Ein Herzschlag und dann keiner mehr. Christian Friedrich Samuel Hahnemann war eingeschlafen – diesmal für immer.
Seine Frau lag neben ihm. Stumm. Leer. Verloren. Ihre Tränen waren versiegt, das Herz blutete. Er war alles für sie gewesen, und er hatte sie verlassen.
Zweites Buch
Verloren im Dunkel
Georg Jahr legte den Brief, den er von Clemens Freiherr von Bönninghausen bekommen hatte, zur Seite und sah betrübt aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne, aber in seinem Innersten war die Stimmung düster. Als ob Madame Hahnemann nicht schon genug zu leiden hätte, fielen nun auch noch die Lästermäuler über sie her. Bis nach Deutschland hatten sich die falschen und gemeinen Gerüchte bereits ihren Weg gebahnt! Möglicherweise durch Amalie, die Tochter Hahnemanns, die sich von Mélanie gekränkt fühlte und nun ihrem Ärger freien Lauf ließ. Ein Medusenhaupt mit Schlangenhaar, das Gift und Geifer spie! Doch auch wenn Madame Hahnemann Fehler gemacht und sich der Tochter ihres Mannes gegenüber nicht so verhalten hatte, wie es die
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