Hahnemanns Frau
kann.
Ich hoffe, ich konnte mit diesem Brief Ihre Bedenken zerstreuen. Ich gebe zu, Madame Hahnemann hat sich in den letzten Wochen etwas eigenartig verhalten, aber wir sollten vorsichtig sein mit unserem Urteil über sie.
Ich weiß nicht, wie es ist, so sehr zu lieben, wie diese Frau geliebt hat – ich selbst habe so etwas nie erlebt. Und um ehrlich zu sein: Ich bin nicht sicher, ob ich es überhaupt erleben wollte. Wen sein Herz so weit hinaufträgt, über den ersten, den zweiten und dritten bis in den siebten Himmel, der muß eines Tages um so tiefer stürzen. Und es gibt niemanden, der einen da auffangen kann – man kann nur hoffen, diesen Sturz irgendwie zu überleben.
Wir werden abwarten müssen, um zu sehen, wie alles weitergeht. Und im Namen des von uns allen verehrten Verstorbenen möchte ich Sie bitten: Seien Sie Madame Hahnemann so sehr ein Freund, wie Sie es ihrem Gatten waren. Er würde es Ihnen danken.
Damit verbleibe ich
Ihr ergebener Georg Heinrich Jahr
Zwischen den Fronten
Allein mit dem Ticken der Standuhr und ihren quälenden Gedanken, starrte Mélanie aus dem Fenster. Als es plötzlich klopfte, drehte sie sich um und blickte in das fast leer geräumte Zimmer. Schon in zwei Tagen würde sie hier nicht mehr wohnen. Sie zog aus diesem Haus fort, in dem sie an Samuels Seite so glücklich gewesen war. Sie verließ es nicht nur, weil sie hier alles an ihn erinnerte und sie die Erinnerung nicht länger ertragen konnte, sondern auch, weil es ihre finanziellen Möglichkeiten nicht mehr erlaubten, hier zu leben.
Rose trat ein und sah seufzend auf den Teller mit Sagoauflauf. Kaum zwei Bissen fehlten. Dabei hatte Madame Hahnemann diese Speise doch immer so gerne gemocht!
»Sie müssen essen, Madame!«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Monsieur hätte …«
Mélanie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie Rose an: »Aber Monsieur lebt nicht mehr!«
»Entschuldigen Sie, Madame.« Rose senkte den Kopf. »Soll ich die Bücher auch schon einpacken lassen?«
»Ja, bitte. Und achte darauf, daß Linchen sie in derselben Reihenfolge in die Kisten legt, wie sie im Schrank stehen.«
»Ja, Madame. Monsieur Colbert ist gekommen. Er wartet im kleinen Salon.«
Rose wollte gehen, aber Mélanie hielt sie zurück und nahm sie in den Arm. »Bitte entschuldige, Rose, ich bin launisch. So ein Verhalten hast du nicht verdient.«
»Ist schon in Ordnung, Madame. Mir fehlt Monsieur auch.« Die alte Haushälterin hatte Tränen in den Augen.
»Ich weiß.« Mélanie drückte sie an sich, dann ging sie, um Sébastien zu begrüßen.
Auch der kleine Salon war bereits fast leer geräumt. In der Mitte standen noch das Sofa, ein Sessel und ein kleiner Tisch, und an der Wand hing ein Porträt von Samuel, das Mélanie in den ersten Wochen nach ihrer Heirat in Köthen gemalt hatte. Sie hatte sein spitzbübisches Lächeln so gut getroffen, daß es ihr jedesmal das Herz zerriß, wenn sie einen Blick auf das Bild warf.
Sébastien stand auf und küßte Mélanie die Hand. Er sah sie besorgt an, sagte aber nichts über ihr schlechtes Aussehen.
»Schön, daß Sie gleich gekommen sind, Sébastien. Ich wollte Sie in einer Erbschaftsangelegenheit um Rat fragen.« Mélanie reichte ihm einen Brief. »Da verbreiten Samuels Kinder Gerüchte über mich, ich hätte es kaum erwarten können, meinen Mann los zu sein, hätte ihn nie geliebt und sei nur hinter seinem Geld hergewesen, und dann haben sie selbst nichts anderes zu tun, als um das Erbe zu streiten, kaum daß ihr Vater begraben ist!«
Sébastien war als Anwalt zwar hauptsächlich für eine Handelsgesellschaft tätig, doch er kannte sich auch in Erbschaftsdingen aus. Er setzte sich und las das Schreiben aufmerksam durch. Hin und wieder seufzte er oder schüttelte den Kopf, schließlich sah er Mélanie bekümmert an. Warum ließ man diese Frau nicht in Frieden? Sie waren wie die Hyänen hinter ihr her! Nicht nur die Verwandtschaft aus Deutschland, auch die Pariser Gesellschaft hatte nichts Besseres zu tun, als ihr mit Verleumdungen nachzustellen. Die Hahnemanns hätten mit ihrer Praxis Reichtümer angehäuft, hieß es, und seine Witwe würde das Geld nun zum Fenster hinauswerfen. Er hingegen wußte es besser. Was in den letzten Jahren verdient worden war, war auch ausgegeben worden. Zwar hatte Mélanie einigen Grundbesitz aus ihrer eigenen Familie, aber die Güter erbrachten nicht mehr die Erträge von einst, und wenn sie von den Einnahmen leben wollte, mußte sie
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