Hahnemanns Frau
sobald ich in der Rue de Clichy wohne, werde ich eine Praxis eröffnen und wieder praktizieren.«
Sébastien war nicht sehr erstaunt über diese Eröffnung. Er hatte damit gerechnet, daß sie diesen Schritt wagen würde.
»Du sagst nichts?« Charles seufzte.
»Was soll ich sagen? Daß sie als Frau nicht praktizieren darf, erst recht nicht ohne offiziell anerkannte Qualifikation, weiß sie selbst. Was sie tut, ist geradezu vermessen! Aber hätte es denn einen Sinn, ihr das vorzuhalten?« Sein Blick ruhte auf Mélanie.
»Danke, Sébastien.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm und sah ihm in die Augen. »Ich bin froh, daß du nicht versuchst, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Es ist nicht nur mein, sondern auch Samuels Wille, und ich gehe davon aus, daß man mich gewähren läßt. Immerhin bin ich Madame Hahnemann und habe einflußreiche Freunde. Und wenn nicht …« Sie zuckte die Schultern. »Ich muß es einfach riskieren!«
»Aber ich muß dich warnen – wenn es rechtliche Probleme gibt, kann ich dir nicht helfen. Dann wirst du dir einen anderen Anwalt nehmen müssen, einen, der sich mit solchen Verfahren auskennt.«
»Hoffen wir, daß es nicht so weit kommt.«
»Ja.« Sébastien seufzte. »Hoffen wir!«
Doyens Rückkehr
Rose hatte Feuer im Kamin angezündet und einen Zweig getrockneten Salbei hineingeworfen. Nun setzte sich Mélanie in einen der Sessel und starrte ins Feuer. Die Flammen züngelten tanzend ums Holz, und der Salbei verbreitete angenehmen Duft. Eine von Samuels Uhren stand auf dem Sims und schlug halb fünf. Es war Nachmittag, und Mélanie wartete vergeblich auf Patienten.
Wie mechanisch nahm sie eine ihrer Visitenkarten, die neben ihr auf dem Tisch lagen, und las laut: Madame Hahnemann, Docteur en Médicine Homéopathique , Rue de Clichy Nr. 48, Paris. Bereits vor drei Wochen hatte sie diese Karten drucken lassen und mit einer kleinen, unauffälligen Annonce in Le Temps bekanntgegeben, daß sie die Praxis wieder eröffnen würde, aber noch kaum ein Patient hatte sich gemeldet. Ganze vier Behandlungen hatte sie durchgeführt. Mrs. Erskin war mit neuralgischen Schmerzen gekommen – eine Nervenentzündung, die ihr so große Schmerzen an den Zähnen verursachte, daß sie eigens aus London angereist war. Sie hatte ihr Natrium muriaticum gegeben, und vier Tage später waren die Schmerzen so weit abgeklungen, daß sie nach Hause zurückfahren konnte. Auch der Dirigent Philippe Musard hatte Mélanie konsultiert, außerdem eine Madame Broggi mit Herzbeschwerden und ein Monsieur Leroy wegen Rheumatismus. Aber sonst schienen es die Leute eher mit der vorherrschenden Meinung zu halten, die besagte, daß eine Frau unfähig war, eigenständige Gedanken zu hegen und ohne männliche Hilfe ernsthafte Arbeit zu leisten.
Plötzlich legte Mélanie die Karte weg und nahm die homöopathische Zeitschrift zur Hand, in der dieser Artikel über sie erschienen war. Bleich vor Wut las sie ihn noch einmal durch.
Es ist ja hinreichend bekannt, daß sich niemand lieber in ärztliche Behandlung mischt als das zweite Geschlecht, insbesondere alte Jungfrauen und alte Weiber. Dabei mag man noch hinnehmen, daß sich eine Dame in Paris › Doctor artis obstetriciae ‹ nennt und versucht, sich mit ihren Schriften als Autorität in der Geburtshilfe hinzustellen, denn sie leistet schließlich nur mechanische Hilfe. Daß sich nun aber eine gewisse andere Dame sogar als Doktor der Medizin ausgibt, läßt uns entsetzt aufschreien. Wie will sie, ohne die Medizin genau studiert zu haben, anders als stümperhaft behandeln! Entweihen wir auf diese Art nicht die Homöopathie, der Hahnemann den Großteil seines Lebens widmete? Ich glaube, jetzt, wo er in einer anderen Welt lebt und von dort alles deutlicher erkennt, wird er sich an dem gewagten Unternehmen seiner Gattin nicht gerade erbauen.
Mélanie war nicht fähig weiterzulesen. Zitternd legte sie den Artikel zur Seite. Diese Schmähschrift war eine einzige Beleidigung. Nicht nur sie wurde persönlich angegriffen, auch Samuel wurde hingestellt, als sei er in den letzten Jahren seines Lebens von ihr getäuscht worden und nicht mehr ganz bei Trost gewesen. Dabei war sie nicht die einzige, die homöopathisch behandelte, ohne Doktor der Medizin zu sein. Georg Jahr, Clemens Freiherr von Bönninghausen, August Freiherr von Gersdorff und viele andere hatten wie sie ausschließlich die Homöopathie studiert. Zudem hätte kein Medizinstudium der Welt ihr oder einem dieser Herren
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