Hahnemanns Frau
haushalten. Praktizieren, um dazuzuverdienen, durfte sie nicht.
»Es existiert doch ein Testament – haben Sie eine Abschrift davon?«
»Natürlich.« Mélanie holte es, und Sébastien las es durch.
Offensichtlich hatte Samuel geahnt, daß es nach seinem Tod in Erbschaftsangelegenheiten Probleme geben könnte. Er hatte verfügt, daß Mélanie alles bekommen sollte, was eventuell noch in Paris erwirtschaftet werden würde. Zu Mélanies Absicherung hatte er eine Klausel einfügen lassen, die besagte, daß, würde jemand das Testament nach seinem Tod anfechten, sich dessen einstiges Erbe aus Köthener Zeiten noch im nachhinein um einen gewissen Prozentsatz verringern sollte.
»Wir könnten diese Klausel geltend machen.«
Mélanie schüttelte den Kopf. »Das ist sinnlos, sie besitzen nichts mehr. Sie hatten das Geld in Staatsanleihen angelegt, weil sie glaubten, das sei sicher. Doch dann ging beim Staatsbankrott das gesamte Vermögen verloren. Nun haben sie finanzielle Probleme und neiden mir meinen angeblichen Reichtum. Sie haben das Gefühl, ich hätte sie um etwas betrogen, und hassen mich dafür. Dabei ist das doch alles so unlogisch! Wäre ihr Vater in Köthen geblieben, wäre das Geld genauso verloren gewesen, und man hätte ganz von vorne anfangen müssen. Mit dem Unterschied, daß Samuel dort sicher nur das Nötigste hätte erwirtschaften können. Aber es geht wohl gar nicht ausschließlich um das Geld – sie wollen mich im Staub liegen sehen und würden nicht zögern, dann auch noch nach mir zu treten.«
»Es scheint so«, gab Sébastien zu. »Und was bedeutet dieser Absatz, in dem man Sie auffordert, die Krankenjournale herauszugeben?«
»Da muß ich weiter ausholen.« Mélanie wechselte zum vertrauteren Du. Es galt als unschicklich, aber solange niemand sie hören konnte, war ihr das gleichgültig. Neben Charles war Sébastien ihr einziger Vertrauter, und er war ihr mit den Jahren nähergekommen als ihr eigener Bruder. »Wie du weißt, hat Samuel das Organon für eine sechste Auflage überarbeitet.«
Sébastien nickte.
»Er hatte es auch bereits Schaub, seinem Verleger in Deutschland, angeboten und stand sogar wegen einer französischen Ausgabe in Verhandlungen. Dann zog er das Manuskript jedoch zurück, und das aus gutem Grunde. Er beschrieb in der sechsten Überarbeitung, daß und in welcher Weise er die Aufbereitung der Arzneien verändert hatte. Diese neue Art der Herstellung von Medikamenten bezeichnete er mit dem Begriff Q-Potenzen. Sie wird in Fünfzigtausender-Verdünnungen vorgenommen, und zwar pro Arbeitsschritt. Konkret bedeutet das, sogar in der allerersten Verdünnung ist nicht mehr viel von der Urtinktur vorhanden. Für Laien vollkommen unverständlich, wie so eine Arznei noch Wirkung zeigen kann, aber die Wirkung wird ja vor allem durch das Verschütteln erzielt.«
Sébastien nickte. »Da mußte er natürlich damit rechnen, daß er bei Ärzten und vermutlich auch bei vielen Homöopathen große Proteste auslösen würde.«
»Genau das war seine Angst. Für uns gab es nie einen Zweifel, daß wir mit den Q-Potenzen richtig lagen, denn selbstverständlich haben wir die Wirkung dieser Arzneien in unserer Praxis mit Erfolg getestet. Auch in Amerika wird schon lange und sehr erfolgreich mit höheren Verdünnungen behandelt. Aber wie du ja selbst schon einmal gesagt hast, sind immer diejenigen, die von einer Sache nichts verstehen, die größten Kritiker.«
Mélanie stand auf und ging zum Fenster. Dort drehte sie sich um und sah Sébastien an. »Samuel hatte Angst, daß man ihn für verrückt erklären und daß man behaupten würde, er sei senil und seines hohen Alters wegen nicht mehr zurechnungsfähig. Aber du weißt so gut wie ich, daß er bis zuletzt bei klarem Verstand war und ganz genau wußte, was er tat. Natürlich haben wir auch Belege für die Richtigkeit unserer Arbeit – eben unsere Krankenjournale. Doch wenn wir diese nun herausgäben, so wie Luise es verlangt, hätte man nichts Eiligeres zu tun, als sie zu veröffentlichen, um Geld damit zu verdienen. Es war aber Samuels ausdrücklicher Wunsch, daß nichts von seinen neuen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gelangt, solange sich die Denkweise der Ärzteschaft nicht verändert hat. Die Zeit ist einfach nicht reif, und ich werde Samuels letzten Wunsch respektieren. So schlecht könnte es mir gar nicht gehen, daß ich seine Manuskripte und Aufzeichnungen verkaufen würde! Und erst recht bekommt sie Luise
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