Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
den Schwerpunkt zu verlagern. Mit der anderen Hand kramte er in seiner Jacke.
Sie wollte noch warten, bis er die Tür geöffnet hatte. Es war ein idiotischer Gedanke, dass das Beweismaterial nicht ausreichn könnte. Immerhin würde Lisa den Mörder mit der Tatwaffe erwischen. Aber warum ein Risiko eingehen?
Andererseits ging sie schon genug Risiken ein, indem sie ganz alleine hier war. Warum eigentlich, würde man sie sicher fragen. Wenn Ihr Verdacht so konkret war, Frau Becker, wieso haben Sie ihn nicht sofort verhaftet? Oder die Falle mit einem Kollegen zusammen aufgestellt?
Lisa hörte die Geräusche der verschiedenen Metallgegenstände, die zum Einsatz kamen, als das Hauschloss überwunden wurde.
Jetzt, Lisa. Jetzt.
Zweiunddreißig
Lisa hatte den Schlüssel zu Svens Wohnung lange nicht benutzt. Er hatte keine Haustiere und fuhr nie in Urlaub – kein Geld, keine Lust. Sie machte das Licht in der kleinen quadratischen Diele an. Die Wohnung war genau so geschnitten wie ihre, nur eben mit vielen schrägen Wänden, wie es sie in Dachwohnungen nun einmal gab. Viele Leute fanden sie schön, aber Lisa hatte ihre Jugend in einem Dachzimmer verbracht und wusste, wie ätzend es war, keine richtigen Regale aufstellen zu können. Noch heute duckte sie sich unwillkürlich, wenn sie einer Wand zu nahe kam.
Kalter Zigarettenrauch hing in der Wohnung. Drei Aschenbecher gab es allein im Wohnzimmer, und sie waren alle voll. Sven weigerte sich grundsätzlich, mit dem Rauchen aufzuhören, weil er nämlich stolz war, in einem freien Land zu leben, in dem er rauchen konnte. Lisa fragte sich, ob es viele Leute gab, die hauptsächlich deshalb Raucher waren, um ihre antiamerikanischen Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Zum ersten Mal nahm Lisa Svens Einrichtung genauer wahr. Der Mann war schon ein mordsmäßiger Pedant. Seine Möbel waren sämtlichst wie aus einem Lego-Bausatz: Einförmig, einfarbig, schnörkellos und funktional. Besonders im Wohnzimmer war das deutlich. Sessel und Couch standen exakt geometrisch ausgerichtet um den rechteckigen Couchtisch herum, alles in derselben Farbe, nussbraun. Auf dem Couchtisch wie immer das Schachbrett, auf dem wohl gerade ein Kampf stattfand. Keiner von Svens Freunden spielte Schach, also spielte er gegen sich selbst. Er lebte beinahe wie im Knast.
Die Bücher im großen Regal waren streng nach Autoren sortiert. Sven hatte sich viel Mühe gegeben, die Bücher jedes Schriftstellers möglichst in gleich aussehenden Ausgaben zu erwerben, das sah dann schöner aus im Regal. Dazu waren langwierige Recherchen notwendig gewesen. Er hatte ihr mal gezeigt, wie man im Internet so gut wie jedes Buch in jeder Ausgabe bekommen konnte, über diverse Antiquariate und eBay. Er hatte ihr dann zum Geburtstag ein längst vergriffenes Kinderbuch geschenkt, von dem sie ihm mal erzählt hatte und das ihr viel bedeutete.
Sie ging das Panoptikum an Autoren durch. Sie wusste, dass sie noch etwas Zeit hatte. Schließlich hatte sie den Wagen genommen, während Sven mit dem Fahrrad von Reinickendorf nach Kreuzberg runterstrampeln musste. Die Gesamtausgabe von Karl Marx war das Prunkstück im Regal. Sie hatte einmal kurz reingesehen und sofort Kopfschmerzen bekommen. Es war ein komischer Text mit dem Titel „Zur Judenfrage“, in dem es nur so wimmelte vor Äußerungen wie „Der weltliche Kultus des Juden ist der Schacher“, „sein weltlicher Gott das Geld“ und so weiter, was sie Sven entsetzt gezeigt hatte. Der reagierte jedoch ruhig und erklärte ihr den Sachzusammenhang, um zu verdeutlichen, wieso das „im Prinzip“ gar nicht antisemitisch war und man Marx weiterhin als Idol ansehen durfte, im Gegensatz zu Richard Wagner. Es klang relativ überzeugend, aber Lisa konnte sich vorstellen, wie man heute reagieren würde, wenn irgendein Schriftsteller, Philosoph oder gar Politiker Sätze des Kalibers „Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element“ vom Stapel lassen würde. Sven wäre der erste, der zur Treibjagd aufrufen würde, und der Sachzusammenhang ginge ihm an seinem knochigen kleinen Arsch vorbei. Und er hätte damit recht.
Ihr fiel auf, dass Sven manche Bücher in deutsch und in englisch hatte. Wieso Sven glaubte, „Stupid White Men“ käme auf englisch besser, war ihr ein Rätsel. Bei aller Hochachtung vor Michael Moores Satiren konnte man ihn wohl kaum als brillanten Stilisten bezeichnen. Davon abgesehen wusste Lisa, dass Svens englisch nicht
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