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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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kurz das Justieren ihres Bühnenmischpults. »Ich glaube, dass das eine unserer größten Stärken ist. Wenn du einen Film drehen willst, und alle Schauspieler kommen aus derselben Schauspielschule, dann kriegst du eine Ensembleperformance, die wie aus einem Guss ist. Jeder versteht genau, was die anderen da machen, und jeder hat seinen angestammten Platz im Ganzen. Wenn aber alle aus unterschiedlichen Schulen kommen, wird jeder versuchen, die anderen an die Wand zu spielen, um zu beweisen, dass seine erlernten Theorien, seine Ausbildung die richtige ist. Das Gesamtergebnis wird sein, dass jeder viel mehr Leistung bringt als normalerweise. Und das sieht man dann. Bei uns hört man das.« »Euer Grundverhältnis ist also Konkurrenz? Versucht ihr nicht, voneinander zu lernen?« »Das macht keinen Unterschied. Letzten Endes spielen wir zusammen, nicht gegeneinander. Wir sind ja nicht im Krieg. Wir machen Musik.«
    Nachdem drei Aushilfspopes mit Pferdeschwänzen und Handies meinen Backstagepass überprüft haben, treffe ich im ziemlich überschaubaren Künstlerbereich auf Hall Drood, dessen Zunge gerade die tiefergelegte Mundflora einer ausladend gebauten Conchita erkundet. Er erkennt mich sofort wieder, schließlich war ich schon früher aufmerksame Begleiterin der Band. Ich frage ihn nach dem, was sich geändert hat für ihn.
    »Es ist alles ein bisschen leichter geworden«, grinst er. »Weißt du, früher musstest du darum kämpfen, Musik machen zu können. Was, du bist Musiker? Kann man denn davon leben? Nein, natürlich nicht. Ich musste tagsüber jobben, unter anderem als Fahrer eines Eiswagens. Ein typischer McJob, mit einem echten Hitler als Boss. Hitler Ice hätte das Unternehmen gut heißen können. Na, und heute läuft man mir schon entgegen, wenn ich mich nähere, und hält mir die Türen auf. Die Leute wollen jetzt, dass ich Musik mache, sie erwarten es von mir. Das ist schon sehr viel besser als früher.« »Und schlägt sich das verbesserte Lebensgefühl dann auch in der Musik nieder?« Er überlegt einen Moment und meint dann: »Möglich. Aber nicht, indem wir jetzt nur noch sonnige Musik machen. Im Gegenteil. Indem unser Standpunkt im Leben jetzt gesicherter ist, können wir es uns endlich leisten, härter und aggressiver aufzutreten, ohne gleich um unsere Existenz bangen zu müssen.« »Je besser es euch geht, desto kritischer werdet ihr also?« »Könnte man so sagen, ja. Wir sind keine Abzockerband, so sind wir nicht gepolt. Je besser man uns arbeiten lässt, desto unverfälschter bekommt man uns. Und der unverfälschte METAL INDEX ist die wütendste Band der Welt.«
    Ich überlasse ihn den unterleiblichen Zuwendungen der ungeduldigen Señorita und bahne mir durch den hummelschwarmsummenden Backstage-Bereich einen weiteren Weg, um Mastermind Floyd Timmen irgendwo zu finden. Joseph Conrads berühmte Novelle Heart of Darkness fällt mir dabei ein. Hier hinten, in den ansteigenden Bereichen zunehmender Wichtigkeit und Zelebration, ist der Aufenthalt für Normalsterbliche aus Harrisburg die Hölle und gefährlich. Auch Floyd kam aus Harrisburg. Aber er ist irgendwo hier drinnen zu Colonel Kurtz mutiert, und diese Verwandlung ist noch nicht einmal abgeschlossen. Die Skala des Ruhms ist nach oben offen.
    Es gelingt mir, ihn zu sehen. Es misslingt mir, ihn zu sprechen. Ich sehe ihn zehn Meter vor mir aus einer Tür kommen, die Gitarre geschultert wie ein Partisan ein Gewehr, und er ist umringt von einem ganzen Tross von Leuten. Einige halten ihm ständig Mikros vor die Nase, andere blenden ihn pausenlos mit Blitzlichtern. Wieder andere plappern in unterschiedlichen Dialekten auf ihn ein, um ihm wichtige Dinge über die bevorstehende Show zu vermitteln. Floyd wirkt blass und verloren, einsam in der Menge, das Ganze hier ist außer Kontrolle geraten, die Maßstäbe sind weggebrochen, niemand hätte geahnt, dass es so werden würde.
    Ich laufe ein Stückchen mit wie ein Hündchen, das darauf wartet, dass vom Metzgerwagen etwas runterfällt. Und bevor er ganz verschwindet, bevor Floyd eintaucht ins gleißende Scheinwerferlicht, jene exhibitionistischste Form der Unsichtbarkeit, die es gibt, gelingt es mir, ihm einen Satz zuzurufen: »Floyd, wir in Harrisburg vermissen dich.«
    Er wendet den Kopf, sucht mich in der Menge, übersieht mich wahrscheinlich, lächelt aber traurig, nickt und verschwindet dann im Licht.
    Oh ja, Mercantile Base Metal Index sind groß geworden. Sie sind das »next big thing«, um sie

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