HalbEngel
Singleauskopplung des Debütalbums Ripcage , ›Implication Storm‹, in Großbritannien als Nummer eins der Verkaufscharts gewertet worden, die alte Heimat der Pilger wartet also nur darauf, im Sturm genommen zu werden. Timmen hat in Eigenregie ein avantgardistisches Video zu ›Implication Storm‹ gedreht, das auch in Kennerkreisen für ziemliche Furore sorgt. Der kommende Monat sieht zwei weitere wichtige Ereignisse für die Band vor: Am 10. Juni soll eine neue Single veröffentlicht werden, diesmal keine Auskopplung aus Ripcage , sondern eine Coverversion von Simon & Garfunkels Klassiker ›Bridge Over Troubled Water‹. Am 18. Juni dann soll es ein Konzert vor 15 000 Zuschauern in Chicago geben, das für ein Kaufvideo mitgeschnitten wird. Die Independence unterscheidet sich in nichts mehr von den Majors.
Ich habe mich mit Floyd Timmen in einem kleinen, merkwürdigen Park in der Nähe von Harrisburgs Einkaufsstraßenzentrum verabredet. Er kommt pünktlich und tatsächlich barfuß, obwohl es noch nicht besonders sommerlich ist. Sein Vater und seine Großmutter wohnen nicht weit von hier, er hat sie gerade besucht und sich deshalb für den kurzen Weg keine Schuhe übergezogen.
Er ist ein gutes Stück kleiner, als die Fotos von Bosco ihn wirken lassen. Wir, die wir Publikum sind, erinnern uns alle an die merkwürdigen Gefühle, die die blaugetönten Bilder von dem halbgeflügelten Jungen mit der E-Gitarre in uns ausgelöst haben. Wir erinnern uns alle an die Verlorenheit und Fremdheit auf den dazugehörigen Porträtfotos. An das Schaudern, das uns durchlief, als Ripcage unsere herkömmlichen Vorstellungen von Rock’n’Roll über den Haufen warf. Und da sitzt er nun neben mir auf einer Parkbank im flirrenden Schatten der Bäume, der neue Messias der amerikanischen Musikindustrie, und wirkt in seiner hippieesken Nettigkeit unauffällig genug, um niemanden von den vorbeischlendernden Passanten auf uns aufmerksam zu machen.
Timmens verschränkte, gleichzeitig aber auch unruhige Körpersprache erinnert mich unweigerlich ein wenig an James Deans Caleb in East of Eden .
Ist ›Bridge Over Troubled Water‹ schon im Kasten?
Das ist mir eigentlich gar nicht so sehr recht, dass schon so viele Leute darüber Bescheid wissen. Mein Manager hat nicht dichtgehalten.
Wie sind MBMI das Stück denn angegangen? Habt ihr eine Horrornummer draus gemacht?
Überhaupt nicht. Das ist eine der schönsten Melodien, die die Menschen jemals hervorgebracht haben, da kann man nicht einfach mit Gebretter drübergehen. Nein, ich würde sagen, wir haben eher eine Brücke errichtet, eine Brücke zwischen der Originalversion und der Zeit damals, und uns heute. Das war sehr interessant.
Das ist sicherlich kein Zufall, dass das Stück genauso alt ist wie du.
Ich habe da auch schon drüber nachgedacht. Es ist gut möglich, dass ›Bridge Over Troubled Water‹ das erste Musikstück war, das ich je in meinem Leben gehört habe. Vielleicht hat meine Mutter es auch oft gehört, als ich in ihrem Bauch drin war, das würde zeitlich genau zusammenpassen. Aber genau kann ich das natürlich nicht sagen. Die Idee, es jetzt neu aufzunehmen, und vor allem das Arrangement und der Weg kamen mir auf einem Flugplatz.
Auf einem Flugplatz?
Ja. Das ist schwer zu erklären. Ich höre manchmal Musik aus Dingen heraus, aus großem Lärm zum Beispiel, der ja in Wirklichkeit auch nichts anderes ist als eine sehr große Anhäufung von sehr vielen kleinen Einzelgeräuschen. Es ist mir sogar schon mal passiert, dass ich ein älteres Stück gehört habe – ich glaube, es war von Marvin Gaye, auch so aus den Siebzigern – und da drin ein anderes, das dann meins war. Wie ein in Bernstein eingeschlossenes Insekt. Der Bernstein an sich ist schon sehr gut, aber da steckt noch etwas anderes drin. Das ist wirklich schwer in Worte zu fassen. Ich bin überzeugt, dass viel mehr Musik in der Welt ist, als die meisten hören.
Wann fing das bei dir an, mit dem derart intensiven Hören?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Wahrscheinlich schon sehr früh. Aber ich will ehrlich sein: Mir ist das anfangs gar nicht aufgefallen. Als ich die Idee hatte, eine Band zu gründen, das war noch in der Schule, da schien mir das Machen von Musik einfach nur ein guter Weg zu sein, um aus dem ganzen Einerlei rauskommen. Das waren die Achtziger, weißt du, alles Mögliche passierte, die ganzen Videos, die modischen Outfits, Hunderttausende von Bands schossen wie Unkraut aus dem Boden, und das
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