Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
ohne Selbstmordversuch, das war das Neue daran.)
     
    four
    Die Tiere kehrten ins Bewusstsein zurück.
    Als Floyd über eine wildwuchernde Wiese schritt, konnte er Käfer und Ameisen, Stare, Schnaken und Spinnen, Feldmäuse und Tausendfüßler wimmeln sehen, sogar ein paar Hasen und einen Fuchs. Siebentausend winzige Geschichten säumten seinen Weg. Kein Paradies hier, nirgendwo, sondern alltäglicher Kampf, der mit unerbittlicher Härte ausgefochten wurde, ohne auch nur die Illusion von Größe.
    Merkwürdig an den Haaren herbeigezogen wirken im Vergleich dazu die Kümmernisse, die ich mit mir herumtrage. Ich bin sehr weit entfernt vom Leben, so, wie ich jetzt bin.
    Der Refrain seines – nach dem gestohlenen ›Bridge Over Troubled Water‹ – bislang zweitgrößten Hits hatte gelautet »Goodbye, We Just Don’t Love You Anymore« und den Abschied von den aussterbenden Tier- und Pflanzenarten gemeint. In ›Grey‹ war er noch deutlicher geworden: »Men in grey suits wanna rule a grey world / They try to kill everything colourful / like flowers, animals or people of different belief systems / The grey ones want to build a grey world / Grey / Grey / Grey / will be our hell.« Bei aller Naivität, in aller Einfachheit des Ausdrucks (seine Songs waren keine verschachtelten Rätsel wie die von Scott Walker) war da eine Menge lärmende Trauer vorhanden, ein Verlustbewusstsein, das sich nicht abfand, das Krach schlug, das alle Posaunen des Himmels und der Hölle heraufbeschwor, um gegen den verborgenen aber allgegenwärtigen Genozid anzubrüllen. Scheiß auf dein Recht, die Aussage zu verweigern.
    Als Floyd in einem Vogel ohne Füße zu einem Engel ohne Flügel wurde, Teil des Himmels und die Asphalt-Spinnennetze der Menschen von oben überblickend, wusste er, dass nicht alles falsch gewesen war an seiner Laufbahn. Da waren viele richtige Ansätze gewesen, nur die Konsequenzen hatten gefehlt, waren auf halber Strecke von materiellen Ablenkungen verwässert worden. Sein Leben hatte nicht die naive Klarheit seiner Texte. Zu viel Mist, über den man sich so Gedanken machte. Zu weit weg der Kopf von den Füßen. Zu verbildet, zu dumm, zu schlau, zu stupide.
    Das Leben wird schneller und schneller. Ich war jung, wurde älter, zu alt, jetzt bin ich wieder jung, hab noch einmal ’ne Chance.
    Des Wahnsinns jetzt mächtig, kehrte der HalbEngel ins Bewusstsein zurück, und von allen Seiten schossen grinsende Fressen auf ihn zu, die ihm ins Gesicht bellten, dass MBMI den und den Award gewonnen hatte und sich zu der und der Preisverleihung in Schale werfen musste.

Der neunte von zwölf Rhythmen
     
    And the Winner is …
     
     
    Fernsehkameras hatten ihn schon eingefangen, als er sich in die Radio City Music Hall reinzuschleichen versuchte. Blitzlichtüberreizung. Mambotanzende Tomaten auf der Netzhaut. Niemand kannte das Mädchen, das ihn begleitete. Sie war nicht seine Noch-Frau, sie war nicht die aus seiner Band. In Wirklichkeit kannte er sie gar nicht, sie gingen nur zufällig nebeneinander rein. Auf den Fotos sahen sie aber glücklich miteinander aus.
    »Mr. Timmen, wie viele Preise werden Sie heute mit nach Hause nehmen?«
    »Mr. Timmen, wann gibt es etwas Neues von MBMI zu hören?«
    »Mr. Timmen, stimmt es, dass Paul Simon ihre Version von ›Bridge‹ nicht mag?«
    »Mr. Timmen?«
    »Mr. Timmen?«
    »Floyd, hey, Floyd!«
    Das war jetzt die zweite derartige Preisverleihung innerhalb weniger Wochen. Die erste war die der Grammies gewesen, die jetzt war für die MTV Music Awards, und dann kam noch eine von irgendeiner anderen einflussreichen Organisation. Oder waren das jetzt die Grammies und das neulich von MTV?
    Die Leute dort waren so alt gewesen, die waren vielleicht auch nur von irgendeiner Akademie, weiß der Teufel. Überall hingen dieselben Pepsi-Schilder rum. Jedenfalls standen bei der ersten Verleihung neulich die Preisträger von vorneherein fest, MBMI hatten zwei komische Nippesgebilde abgestaubt, einen für die beste Single (›Goodbye‹) und der zweite für »Best New Act« oder »Greatest Surprise« oder so was in der Art, und Floyd war zweimal nach vorne gegangen und hatte sich artig verbeugt, bis er mit dem Kopf fast auf das Stehpult geschlagen war. Beim zweiten Mal hatte er husten müssen, und der Preis war ihm beinahe runtergefallen. Es war unglaublich peinlich gewesen. Die ganzen Leute, die nicht wegen Musik gekommen waren, sondern nur wegen Glam. Floyd konnte sich nicht erinnern, jemals vorher solche

Weitere Kostenlose Bücher