HalbEngel
sich, war entgleist. Der Engel Scott dagegen konnte unerkannt wandeln, sich hierhin und dorthin wenden, dieses und jenes Experiment wagen, ohne dass jemand besonders besorgt um ihn war, geschweige denn in den Prozess eingriff. Er war ein Kult für sehr wenige, aber diese Wenige waren ein erlesener Kreis, selber Schöpfer. Er besaß die Narrenfreiheit, sich ein Jahrzehnt Zeit nehmen zu können für ein Album, es wirklich erst dann seiner eigenen winzigen Öffentlichkeit zu unterbreiten, wenn es in seinen Augen und Ohren perfekt geworden war. Die Plattenfirmen seufzten, murmelten etwas wie »Das wird sich wieder nicht verkaufen, du treibst uns noch alle in den Ruin«, drängten ihn, ihnen eine Option fürs nächste Werk im nächsten Jahrzehnt zu verkaufen, und fügten sich brav in ihr Schicksal, wenn er ihnen das verweigerte. Er war der Herr seines Schicksals geworden, niemals zuvor in seinem Leben hatte er sich so ruhig und ausgeglichen, so entspannt und gut gelaunt gefühlt wie jetzt, mit über fünfzig Jahren, und er wusste, dass noch bessere Jahre als dieses vor ihm lagen.
Alles, was er dafür hatte aufgeben müssen, war das Rampenlicht. Die Bühne blieb dunkel, wenn er sie betrat, und im Dunkel schimmerte leise sein Lächeln. Dieses Lächeln gab ihm die Kraft, der großen Finsternis ins Gesicht zu schauen, ohne wahnsinnig zu werden. Die Lieder Engels waren düsterer und deprimierender als alles, was Floyd je albgeträumt hatte, trauriger als ›Goodbye‹, böser als ›Market‹ und wahrhaftiger als ›Sleep‹. Floyd hatte mit offenem Mund zugehört, staunend über die karge Einfachheit des Weges. So in etwa buddhistisch mutete das alles an, oder wie bei einem Mönch, der, ganz versunken in seinen tiefen Glauben und seine große Liebe zu Gott, der Weltlichkeit nicht mehr bedarf.
»Was für eine Musik macht man denn eigentlich, wenn man sich nur noch nach sich selber richtet ... und nach der Perfektion? Wird man dann so eine Art ... Erfinder und Vorreiter von ganz neuer Musik?«, hatte Floyd gefragt.
»Wenn man versucht, eindeutig Avantgarde zu sein, legt man seine Musik genauso fest, als ob man nur Mainstream ist«, hatte Scott Walker geantwortet. »Man muss dem Pragmatischen das Spirituelle entgegensetzen, um beides in Frage zu stellen.«
Zu hoch war diese Antwort gewesen für Floyds eifrigen Geist, aber er hatte die Worte auswendig gelernt wie ein Schauspielschüler und sie in den Kavernen seines Herzens verankert.
Danach war Noel Scott Engel aufgestanden und in sein Hotel zurückgegangen, das ein anderes war als Floyds. Sie sahen sich nicht wieder, aber in den folgenden Wochen befasste Floyd sich mit Engels Musik und erweiterte dadurch sein Spektrum bis hin zur orchestralen Musik. Orchestrale Musik – eben keine leichenstarre Klassik, sondern lebendige, harmonische Schwebung.
Floyd Timmen, der das Wort »Intellektueller« immer als Schimpfwort verstanden hatte, begann, sich mit Strukturen auseinanderzusetzen, die den Blues aufbrachen, um im Mark der schwarzen Knochen eine neue Art von Blues zu finden, Blues, der durch Bauch und Herz und Seele ging und von dort aus weiter ins Unendliche. Drittes-Auge-Gospel. Segnung des entfesselten Lärms. Akustischer Sex. Teilung der Einzelheiten. Unzensierte Projektion.
Das Schwierige war, da hinzukommen.
Er wusste jetzt, was sein Ziel war, was er tun musste. Er hatte sich selbst einmal in einem Interview scherzhaft als »letzten Wanderin’ Bluesman« bezeichnet. Jetzt konnte er sie ernst nehmen, die Witze von einst, und der Ernst der Gegenwart wurde lächerlich für ihn.
Aber er wusste eben immer noch nicht genau, wie er Walkers Weg bewerkstelligen konnte, wie er selbst ein Walker werden konnte. In der Anfangszeit seiner Gefragtheit war er so begierig darauf gewesen, alles zu unterschreiben, was man ihm hingehalten hatte, nur um mehr Möglichkeiten, mehr Mittel zusammenzubekommen, nur um das Ziel im Großen statt im Kleinen zu suchen, in der Gigantomanie statt in der Reduktion. Er hatte so viele Verträge ge- und gegengezeichnet, dass vielleicht sogar einer dabei gewesen war, in dem er seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Er wusste es nicht mehr und hätte diesen unter den ganzen anderen auch gar nicht mehr herausfinden können. Er war ein gefesselter Gulliver.
Also wie?
Wie stieg man aus, wenn man in der Mitte war, und alle anderen standen um einen herum und versperrten einem den Weg nach draußen?
Wie kam man da eigentlich lebend wieder raus?
(Lebend und
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