HalbEngel
an und fragte sich, wie es da hingekommen war. Erstaunlich auch, was für Awards es da unten alles gab. Da gab es Preise für das beste Überraschungs-Video, für den besten Alternativstreifen, für Schnitt, beste Tanznummer, originellste Ausstattung, Spezialeffekte, künstlerische Gestaltung, es gab einen Zuschauerpreis und sogar Preise, die von megareichen Popstars selbst gestiftet worden waren. Müde fragte sich Floyd, ob es auch einen Preis für das umfangreichste Silikonimplantat oder die protzigste Körperhaltung beim Gitarre spielen oder das beste Kaschieren von Haarausfall bei Altrockern gab. Die Videos, die jetzt so über die Monitore flimmerten, zeigten durchgestylte Jünglinge, die in farblich verfremdeter Umgebung und in Zeitlupe Inbrunst, Gefühle, Rebellion und Tiefgang mimten. Dazwischen gab es etwa alle fünfzehn Minuten einen »Commercial Break«, damit die 300 Millionen Fernsehzuschauer auf allen Kontinenten von den neuesten Unabdingbarkeiten amerikanischen Konsumgeistes unterrichtet werden konnten.
Die meisten der preisverleihenden Pärchen benutzten beim Öffnen der Umschläge die Floskel ›And the Winner is ...‹. Sie fanden das geistreich und kicherten alle dabei. Die Oscar-Verleihung zu zitieren, obwohl das hier doch gar nicht die Oscar-Verleihung war – Mann, war das lustig und originell. Langsam wurde Floyd übel. Er fühlte sich immer unbehaglicher. Die kleinen Punks neben ihm schütteten Dosenbier in sich rein wie Kids im Kino und rülpsten, was das Zeug hielt. Jedes dritte ihrer Worte war Fuck. Merkwürdig, wie alt sich der kaum ältere Floyd plötzlich vorkam.
Ein Aufschrei ging durch die Menge. Nebel explodierte funkend. Begeisterung spritzte siedendheiß durchs Auditorium. ER war gekommen, ER tanzte für sie den Moonwalk und fiepte dazu abgehackt ins Headmike. Einer der Punks warf eine zerknüllte Bierdose nach IHM, traf aber leider nicht. In Paris hatte Floyd im Hotelzimmer den Anfang eines Films gesehen, den ein französischer Regisseur mit amerikanischen Schauspielern in New Orleans gedreht hatte und der jetzt in Paris natürlich wieder in französischer Sprache lief. Ganz am Anfang war das Gesicht der etwa zwölfjährigen Brooke Shields groß im Bild gewesen, und da hatte Floyd plötzlich kapiert, wie Michael Jackson eigentlich auszusehen versuchte. Die kleine Nase, die großen Augen, das Grübchen im Kinn, die milchweiße Haut. Ein vierzigjähriger schwarzer Mann versuchte wie ein zwölfjähriges weißes Mädchen auszusehen, und das permanent, mittels plastischer Chirurgie. Die Folge davon war, dass dieser Mann in spätestens zehn Jahren wahrscheinlich mit einer Plastikmaske rumlaufen müsste wie das Phantom der Oper, weil der natürliche Alterungsprozess seiner Haut sein vernarbtes Gesichtsgewebe einfach abplatzend abstoßen würde. Die Entertainmentindustrie war eine Freakshow, war kaputt, war krank und verschlang gierig ihre eigene Kotze.
Floyd linste neben sich. Utah war gefangen von dem Bühnenzauber. Sie konnte normalerweise genauso wenig mit Jackson anfangen wie er, aber jetzt ließ sie sich doch entführen von der wilden Akrobatik, der abgezirkelten, geschwinden Choreographie, die ein großes buntes Nichts erzeugte, und zwar mit aller Kunstfertigkeit, die dazu nötig war. All dieser Aufwand. All dieses Geld, das in ein gewaltiges Arschloch geschaufelt wurde, um einen titanisch aufgeblähten Furz zu erzeugen.
Als jetzt auch noch Mike Tyson und Monica Lewinsky, zwei hier nun wirklich völlig deplatzierte Auswüchse des erbarmungslosen Geschäfts, auf der Bühne auftauchten und ein zugegeben extrem attraktives karamelfarbenes Mädchentrio schon zum dritten Mal an diesem Abend einen Preis in die lackierten, kreischenden Hände gedrückt bekam, realisierte Floyd überhaupt erst, dass das hier keine Musikpreise waren. »Das sind ja alles Preise für Videos«, sagte er erstaunt zu Utah, die ihm ebenso erstaunt entgegnete: »Was dachtest du denn? MTV Video Awards , das steht hier doch überall, das wusstest du doch auch. Von was anderem war nie die Rede.« »Ja, was mach ich denn dann hier? Ich bin doch kein ... kein ...« »Hey! Schon vergessen? Das Video für ›Implication Storm‹ hast du selbst inszeniert! Vielleicht kriegst du dafür heute was.« »Du weißt, dass ich das Ding nur gemacht habe, weil keiner von den Profis kapiert hat, was ein ›Implication Storm‹ ist. Scheiße, Utah ... ich hau hier ab.« »Das kannst du nicht. Die lassen dich wahrscheinlich gar
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