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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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war relativ einfach, sich die Kompromisslosigkeit als Lebensziel vorzuhalten. Kompromisslosigkeit war nichts weiter als ein billiges Wort. Aber jemandem zu begegnen, der Kompromisslosigkeit wirklich lebte, war eine sehr große Hilfe auf dem Weg dorthin. Er hatte nun Engel gefunden, Engel war genau der Mann. Dabei war Engel nicht gerade naheliegend, das war das Seltsame daran. Engel machte zwar Musik, war aber kein Gitarrespieler und eigentlich überhaupt kein Rockmusiker. Er hatte mit Breakbeat oder Rhythm’n’Blues oder auch mit Blues im verstandenen Sinne ziemlich wenig zu tun. Neil Young wäre da naheliegender gewesen, Neil Young, der den Handschlag zwischen den psychedelischen Rückkopplungseskapaden der Woodstock-Generation und den nihilistischen Schmerzausbrüchen der frühen Neunziger zu unternehmen verstanden hatte. Aber Neil Young war Floyd eben nie begegnet. Er war nie unter den vielen kleinen und großen Celebrities gewesen, die Backstage zum Händeschütteln und Smalltalken kamen, die »Cool, Man« lobten oder rotzig waren, weil sie beweisen wollten, dass sie noch viel cooler waren als man selbst. Neil Young war nie dort gewesen, wo Floyd den knurrigen alten Bären hätte gebrauchen können, und am wenigsten war er in Deutschland gewesen, als Floyd dort war, 8000 Kilometer von zu Hause entfernt. Engel war dagewesen, um ein neues Projekt mit ein paar interessierten Journalisten zu besprechen. Engel war dagewesen, völlig unerkannt, hundertprozentig ungefeiert auf den Straßen, ein um die fünfzigjähriger dunkelblonder Mann in Jeans und Jackett.
    Engel. Mit vollem Namen Noel Scott Engel. Besser bekannt als Scott Walker. Besser bekannt als Sänger der Walker Brothers , die Mitte der sechziger Jahre, also noch bevor Floyd überhaupt geboren worden war, nach den Beatles und den Stones die drittgrößte Band des Planeten waren.
    Ihre Musik hatten sie damals nicht selber geschrieben, aber Scotts ästhetischer Existenzialismus und die überbordende, größenwahnsinnige Produktion brachte Unsterblichkeiten hervor wie den Selbstmord-Soundtrack ›The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore‹ oder das euphorische Trugbild ›My Ship Is Coming In‹. Dann war – all dies hatte Floyd sich erst zusammenrecherchieren müssen, nachdem er Engel in Deutschland begegnet war – eine Phase des Absturzes und der Verwirrung gefolgt, Scotts Selbstmordversuch, sein Studium gregorianischer Choräle in einem Kloster, immer differenzierter werdende Solo-Alben zwischen Gelatine-Pop, moderner Komposition und Jacques-Brel-Chansons. Das Metrum der Publikationen wurde immer langsamer. In den Achtzigern noch ein Soloalbum, das endgültig so etwas wie einen Heiligenschein um Engels Gestalt legte, aber wie verschweißtes Blei in den Regalen liegen blieb, und dann, plötzlich, aus heiterem Himmel, ein entferntes Donnerrollen als subtiler Schock für den Rest der hörenden Gesellschaft: mehr als zehn Jahre später, mitten in den Neunzigern, ein neues Album von Scott Walker – Tilt .
    Mittlerweile hatte Floyd sich damit befasst, hatte es wieder und wieder gehört, die Angst vor den darin enthaltenen Unbeschreiblichkeiten langsam abzubauen gelernt. Wenn jemals Musik aus einer anderen Dimension gekommen war als der, die wir zu kennen uns anmaßen, dann die Musik von Scott Walker, das wusste Floyd jetzt. Er hatte es nicht gewusst, als Engel ihm über den Weg gelaufen war und zu ihm ein paar kleine Dinge gesagt hatte, aber er wusste es jetzt. Er hatte damals – es kam ihm wirklich wie ein damals vor, aber es war erst drei Wochen her – auch noch nicht gewusst, dass der Walker-Engel für Leute wie Bono und Brian Eno so etwas wie ein lebendiger Gott war. Floyd hatte damals nur gespürt, wie irgendein Kreis sich schloss.
    In Engel lernte er also das Idol von Musikern kennen, die seine eigene Musik mit ausgelöst hatten. Das war, als würde man seinem eigenen Großvater begegnen, während der Großvater noch ein junger Mann ist.
    Engel hatte sich zu dem bekümmert dasitzenden Floyd ins Gras gesetzt, und sie hatten ein wenig geplaudert, wie aus dem Nichts heraus über Musik und über das, was Floyd damals am meisten bewegte: die Misere des Ruhms. Engel hatte erzählt von seinem eigenen Lebensstil in relativer Armut und Bescheidenheit, der aber aufgewogen wurde durch das unglaublich gute Gefühl, sich die Unabhängigkeit bewahrt zu haben. Auf der Straße erkannt, bejubelt und um ein Autogramm angebettelt zu werden, hatte nichts Musikalisches mehr an

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