HalbEngel
summen hören. Vielleicht waren das auch gar nicht alles Stromkabel, vielleicht liefen durch einige auch Telefongespräche durch, einige davon vielleicht sogar aufgeregt nach Übersee.
Es half alles nichts. Der Moment musste kommen. Der einzige wirklich gefährliche Moment. Der Sprung ins Leere. Luke musste darauf achten, dass seine Füße sich vom Mast gelöst hatten, bevor seine Hände das Kabel berührten. Er musste landen wie ein Vogel, aus der freien Luft, ohne irgendwelche Erdung. Wirklich ein Jammer, dass Greg das nicht filmen konnte.
Luke fixierte das Kabel, an dem das Band hing, er prägte sich seine Position gut ein, bis er sicher war, auch mit geschlossenen Augen nicht mehr danebengreifen zu können. Er war ein Skater. Er konnte Treppengeländer fahren. Nicht Brückengeländer wie Greg, aber immerhin Treppen. Das hier war eigentlich kein Problem.
Er stieß sich ab, unterdrückte den Reflex zum Zupacken, wartete, bis sein Körper sich fast waagerecht über der Tiefe streckte, wartete weiter, das Kabel zog wie in schwarzzerhackter Zeitlupe an seinem Gesicht vorbei nach oben, aber da es sich ja nach unten krümmte, war noch genug Kabel unter ihm. Jetzt lösten sich seine Sneakers vom Metall. Luke flog – und packte zu. Beide Hände schlossen sich wie Schraubzwingen um das Kabel. Es klappte perfekt. Kein Stromschlag, und die Handschuhe verhinderten selbst den kleinsten Schmerz. Luke ließ seinen Unterkörper in der Flugrichtung unter sich durchschwingen und hängte beide Kniekehlen über dem Kabel ein. Auch hier leisteten die Schutzbandagen ganze Arbeit. Das Kabel wackelte und rüttelte wie ein Rodeopferd und ächzte in den Halterungen, hielt aber stand. Luke hing jetzt wie ein Faultier an allen vieren unter dem Kabel.
Jetzt musste Luke sich ein bisschen beeilen, solange er noch volle Kraft in den Armen hatte. Er hängte sich mit der linken – ebenfalls bandagierten – Ellenbogenbeuge ein und nestelte mit rechts den Hosengurt vorne auf. Zog sich näher an das Kabel ran, bis sein Bauch es fast berührte. Legte die schwere Gürtelschnalle über das Kabel. Fädelte das andere Gürtelende mit den Löchern oberhalb des Kabels in die Schnalle. Und zog auf dem hintersten Gurtloch zu. Geschafft. Er war jetzt mit der Hüfte am Kabel gesichert und konnte mit den Händen sogar loslassen und die Arme ausschütteln, wenn er wollte.
Von jetzt ab war alles ganz leicht. Das Kabel hing nach unten durch, also rutschte er einfach zwanzig Meter abwärts bis zu dem Band. Dort hatte er dann alle Zeit der Welt. Er kam mit den Füßen zuerst an und musste die Kniekehlen hinter das Band bringen, aber das war kein Problem und allemal besser, als die ganze Zeit mit dem Kopf nach unten zu hängen. Da das Band stellenweise regelrecht um das Kabel geknotet war, kam Luke mit den Handschuhen nicht recht weiter, aber er konnte es sich konditionsmäßig locker leisten, sich die Handschuhe auszuziehen, sie sich auf den Bauch zu legen und mit den Fingern das Band freizuknibbeln, während der Gürtel und die Kniekehlen sein Gewicht hielten. Ab und zu hängte er einen oder sogar beide Armbeugen ein, um den ächzenden Gürtel zu entlasten.
Schließlich hatte er das Band. Er raufelte es in halbmeterlangen Schlaufen auf und steckte das eine Ende fest in die Taschenmessertasche der Jeans. Die Matratze unter ihm sah ein wenig klein aus und veränderte auch dauernd ihre Position, da das Kabel doch ziemlich schwankte, aber wenn er erst mal wie ein Pendel hing, würde sich das Gewackel schon geben. Luke hängte sich mit drei Gelenken wieder ein, öffnete den Gürtel und löste ihn aus den Schlaufen. Er legte ihn über das Kabel, so, dass er links und rechts gleichlang hinunterhing. Das brachte etwa vierzig Zentimeter Höhenminderung, das war nicht zu verachten, konnte bei einem solchen Sprung den entscheidenden Ausschlag geben. Luke würde jetzt ohne Handschuhe arbeiten, da hatte er am Gurt einen besseren Griff.
Er packte den Gurt links und rechts auf halber Länge unterhalb des Kabels und löste die Unterschenkel vom Kabel, sodass sein Körper senkrecht zum Hängen kam. Mit einem halben Klimmzug und Anspannung der Bauchmuskeln minderte Luke den Ruck. Die beiden Handschuhe trudelten nach unten. Keiner von ihnen traf die Matratze.
Luke fasste abwärts am Gurt nach, hatte nun beide Enden im festen Griff. Seine Füße waren jetzt noch etwa drei Meter über dem Boden, das war bewältigbar. Er wartete, bis die Kabelbewegung sich so gut wie möglich
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