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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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stärker. Das Flimmern der Luft schien manchmal aus Luke, der nur mit einer schlackrigen Kniehose bekleidet herumlief, den Mittelpunkt des klar erkennbaren Universums zu machen. Die Drähte der Hochspannungsleitung hingen bei diesen Temperaturen tief durch, aber immer noch flatterte das Kassettenband fast zwei Meter oberhalb von Lukes Kopfhöhe. Und da fingen dann so langsam die Überlegungen an. Wenn es noch tiefer kommen würde, es sich irgendwie weiter löst oder das Kabel noch mehr zum Durchhängen kommt ... wenn das braune Band so tief kommt, dass ich es berühren könnte – würde ich’s dann berühren? Würde mich das umbringen? Leitet so’n Band Strom? Chromdioxyd, stand auf den meisten Tapes drauf. Das klang nach Metall. Also würde es wohl leiten. Das Ding war richtig gefährlich. Gefährlich ist immer cool.
     
     
    Es war immer da, jeden Tag. Mehr als eine Woche war nun vergangen. Die Hitze hielt an, aber noch tiefer kam das Kabel nicht. Das Band flatterte morgens, viel zu früh eigentlich zum Aufstehen, aber wenigstens noch erträglich kühl, und es hing am Nachmittag eher still, waberte nur in der aufsteigenden Erdhitze langsam funkelnd vor sich hin. Lukes Gedanken gingen weiter. Es gab nichts anderes, was spannend war, seit Gregs Geschichte.
    Was war drauf auf dem Tape? Irgendein Scheiß, der seinen Besitzer so angeödet hatte, dass er das Tape weggeschmissen hatte, und dann waren Katzen gekommen, hatten die Mülltonne umgeschmissen und das Tape so lange gezaust, bis sich mindestens zwanzig Meter davon durch die Luft auf und davon gemacht hatten? Oder war vielleicht was Cooles drauf, abgefahrene Musik, mit der der Besitzer vielleicht per Walkman ein paar Vollärsche im Bus genervt hatte, die hatten ihn dann zusammengeschlagen und die Kassette entrollt und zertrampelt? Vielleicht war sogar was Wichtiges drauf, und die Kassette war aus Versehen in den Abfall gekommen oder von einem schlechten Tapedeck zerrissen, zerkrumpelt oder sonst wie beschädigt worden, und der Besitzer, ahnungslos, wie man so was repariert, aber frustriert über den Verlust, hatte das kaputte Band als große Abschiedsgeste von seinem Fenster aus dem Nachtwind gegeben? Und wichtig – was war wichtig? Waren die ersten gelallten Worte des ersten eigenen Kindes drauf, ein paar Songs, die mit der eigenen Vergangenheit verknüpft waren, eine wissenschaftliche Geheimformel, die ein Forscher selbst draufgesprochen hatte, das Zwitschern eines mittlerweile ausgestorbenen Vogels, ein wirklich einzigartiges Konzertbootleg, ein hingenuschelter Rohentwurf für einen Bestseller? War es wichtig – oder nicht?
    Mindestens zwanzig Meter war eine sehr vage Schätzung. Auf dem nächsten Schulweg stellte Luke sich unter das Geflatter und versuchte, die einzelnen Schlaufen mit den Augen abzumessen und zu einer Gesamtlänge zusammenzuzählen. Er kam auf dreiunddreißig Meter. Zuhause schaute er nach, wie lang so ein Band normalerweise war: 135 Meter ein 90-Minuten-Tape. Dreiunddreißig waren ziemlich genau ein Viertel von 135, ein Viertel von 90 war etwa 22. 22 Minuten Material hingen da oben rum. Das war eine ganz hübsche Menge Stoff. Vorausgesetzt natürlich, das Band war nicht einfach nur leer.
    Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, war, das Band herunterzuholen.
    Zwei Nächte lang dachte Luke vorm Einschlafen über dieses Problem nach, zwei Nächte, in denen er schon langsam zu fürchten begann, das Band würde von Vögeln oder von einem Tumbleweedsturm abgerissen werden und nicht mehr da sein, wenn er am nächsten Tag dort hinkam. Aber das Band enttäuschte ihn nicht. Es wartete auf ihn. Luke machte sich Sorgen wegen der Hitze und den Schäden, die die brutale Sonne bei dem Tape verursachte, auch war er skeptisch wegen der Stromleitung. Zum einen war da die winzige Kleinigkeit mit der absoluten Tödlichkeit des Stromkabels für ihn selbst, zum anderen hatte er in einem seiner seltenen wachen Momente im Unterricht mal aufgeschnappt, dass Stromleitungen auch irgendwie magnetisch waren und dass ein Tonband auch mit Magnetismus funktionierte, und so war die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass auf dem braunen Flatterzeug gar nichts mehr zu hören war, weil alles irgendwie magnetisch durcheinandergewirbelt worden war.
    All diese Überlegungen änderten aber auch weiterhin nichts an der Tatsache, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, das alles herauszufinden.
    Vögel, deren Rivalität um das Band Luke fürchtete, waren schließlich

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