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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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der Schlüssel. Krähen oder Stare, die auf den Kabeln saßen, wurden nicht zu Brathühnchen. Also bekam man nur dann einen gewischt, wenn man irgendwie noch Bodenkontakt hatte. Das faszinierte Luke besonders, denn es bestätigte seine Ahnung, dass das Band eine tödliche Gefahr war, wenn es sich weiter löste und bis fast zum Boden runterschleifte. Wehe dem ahnungslosen Penner, der dann nachts da herumschlich und dem das Band sanft gegen die Fresse wehte. ZZZZZZOOOOOOOSHHH – elektrischer Stehplatz!
    Es ging hier also vielleicht sogar darum, Leben zu retten.
     
     
    Von der Stelle am Kabel, wo das Band sich verfangen hatte, bis zum Boden waren es noch etwa fünf Meter. Das war ein ganz schönes Stück Luft, aber Luke war ein Skater, er war trainiert und gut drauf, und im Notfall würden die schamanistischen Tattoos in den ewigen Jagdgründen ein gutes Wort für ihn einlegen.
    Er wühlte die tuntigen Knie- und Ellenbogenschützer, die ihm seine Stiefma gekauft hatte, als er mit dem Skaten anfing, aus der hintersten Gerümpelecke seines Schranks hervor, außerdem die am dicksten gepolsterte seiner Basecaps und ein altes Klebeband. Das alles packte er zusammen mit einer halbvollen Schachtel Cigs, einem ledernen Hosengürtel (den er aus dem Kleiderschrank seines Vaters hatte »leihen« müssen, da ja niemand, der noch aller Sinne mächtig war, heutzutage noch Hosengürtel trug) und den robustesten Jeans, die er in seiner Sammlung finden konnte, in seine Streetballtasche, ging in die Garage, stopfte von dort noch Dads klobige Barbecuehandschuhe in die Tasche, schnallte die an einer Seitenwand vor sich hinschimmelnde Matratze auf sein Bike und zog los. Wenigstens als Lastentransportmittel war das geschobene Fahrrad hier auf dem holperigen Weg zu was nutze.
    Es war eine verdammte Schande, dass Greg nicht dabei sein konnte. So ein Unternehmen wäre genau das richtige für ihn gewesen. So was würde auch ein gutes Video abgeben. Manchmal machte Greg mit der Homekamera seines voll verfetteten Dads Videos von Luke beim Skaten oder Luke beim Shopliften. Aber außer Greg traute Luke keinem anderen genug über den Weg, dass er mit ihm zusammen so was oder so was wie das hier abgezogen hätte.
    Angekommen gönnte sich Luke erst mal eine Cig. Er rauchte eigentlich sonst nur mit Greg, aber das war halt immer dann gewesen, wenn sie irgendwas Besonderes ausgeheckt hatten. Also musste es jetzt auch sein. Es passte hierhin. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Luke seine Gegner: die beiden wuchtigen, eiffelturmartigen Metallmasten links und rechts und die hängenden Kabel dazwischen. Die fast special-effects-mäßige Fortführung beider Metallmasten in beide Richtungen bis in zwei kleiner werdende Unendlichkeiten.
    Er brachte die Matratze in Position, genau unterhalb der Stelle, wo das Tonband am dichtesten verwickelt war. Er achtete darauf, dass die Seite der Matratze oben lag, wo die Menstruationsflecken seiner Stiefma drauf waren. Das war der Grund, weshalb die Matratze ausgemustert worden war, und jetzt passte das Blut gut, für den Fall, dass Luke sich beim Sprung verletzte oder sonst wie vielleicht sogar draufging.
    Anschließend legte er die Ausrüstung an. Er zog die fast brettharte Jeans über die halbkurzen Hosen drüber, fädelte umständlich den Ledergürtel ein, streifte die Knieschoner über, legte die Ellbogenschoner an, stopfte sich so viele seiner Haare wie möglich unter die Basecap – Schirm vorne, wegen der Sonne – und wickelte sich zwei Umläufe Klebeband quer über Mütze und ums noch bartlose Kinn herum, sodass die Cap wie ein Helm sicher auf dem Kopf festgeschnallt war. Zuletzt legte er die alten, rauen Grillhandschuhe an und schnürte sie ebenfalls an den Handgelenken mit Klebeband fest. Der Oberkörper blieb nackt. Die Tattoos sollten weithin leuchten. Luke war jetzt so was wie ein Krieger.
    Behände enterte er am von ihm aus gesehen rechten der beiden Masten auf. Das war wirklich nicht besonders schwer, Verstrebungen gab es genug. Das einzige Problem war die Höhe. Um bis dahin zu kommen, wo die Kabel übergeleitet wurden, musste er gute fünfzehn Meter hoch gehen, das ist wie im fünften Stock eines Hauses, das ist ein ganz schönes Stück weit oben im glosenden Himmel. Es war zwar schon später Nachmittag, aber der Strommast war noch heiß.
    Unterhalb der Sicherungsspulen verharrte Luke erst mal und verschnaufte in einer möglichst bequemen Sitzposition. Er konnte die Kabel in ihren Keramikhalterungen

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