Halbgeist: Roman
Problem war im Grunde, dass das Verbrechen nach wie vor keinen Sinn ergab.
»Sehen Sie mal da«, sagte Lassiter. »Da passiert was.«
Durch unsere Kopfüber-Position wirkten die Brachiatoren entschieden lebendiger. Nun sahen sie nicht mehr aus wie Schlachtvieh, das sich am Überwuchs festklammerte, weil das ihre einzige Möglichkeit war, sich vor einem tödlichen Sturz zu schützen. Nein, jetzt wirkten sie eher wie Ballons, die sich fürchteten, davongetrieben zu werden. Die Verwundeten bluteten aufwärts in Tropfenform oder in Rinnsalen, und die größeren Tropfen zerfielen in viele kleinere, während sie emporstiegen. Die beiden, auf die Lassiter gezeigt hatte und an die sie uns nun näher heranbrachte, waren in ihrem tödlichen Kampf schon weit gekommen. Jeder wies ein Dutzend klaffender Wunden auf, und der Kleinere hielt sich mit einem Arm, der mehr Verletzungen als unversehrte Stellen aufwies, an einer Ranke fest. Der Größere hatte seinem Feind eine Klauenklinge in die einzige gesunde Schulter gestoßen und sägte nun, langsam, unendlich langsam, an dem, was von dem Gewebe übrig war, das Muskeln und Knochen beisammenhielt.
Sie bewegten sich so hastig, wie es Brachiatoren nur möglich war, doch meine menschlichen Augen nahmen sie immer noch als schwerfällig, faul und verlangsamt wahr.
»Der Kleine wird in den nächsten Minuten abstürzen«, sagte Lassiter. »Armes Ding.«
Ich überlegte, ob ich mich übergeben sollte. Die Erkenntnis, dass der ganze Dreck dank unserer Position direkt in meinem Gesicht landen würde, verstärkte das Bedürfnis sogar noch. »Können wir ihn retten?«
Lassiter musterte die Klauen und Zähne, die Furchen im Fleisch hinterließen. »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, den beiden in die Quere zu kommen.«
»Ich meine, nachdem er abgestürzt ist. Können wir tiefergehen und ihm einen Platz zum Landen anbieten?«
Lassiter reagierte auf den Vorschlag mit einem Gesichtsausdruck, wie ihn die Leute üblicherweise für völlig übergeschnappte Personen bereithielten. »Auch keine gute Idee, Counselor. Wir sind nicht gerade dafür ausgerüstet, ihm eine medizinische Versorgung anzubieten. Oder eine Zukunft. Und jede Art der Einmischung liegt weit außerhalb des Handlungsspielraums, der uns im Zuge dieser Mission eingeräumt wurde. Wir könnten ernsthaften Ärger mit den KIquellen bekommen.«
»Oje«, sagte ich. »Na, das wollen wir doch bestimmt nicht.«
»Bitte, Counselor. Ich habe Verständnis für Ihre humanitären Ideen ...«
»Ich habe keine humanitären Ideen. Aber ich muss etwas herausbekommen. Finden Sie eine Möglichkeit, ihn zu retten.«
Hinter mir räusperten sich die Porrinyards und schafften es, das Geräusch so klingen zu lassen, als käme es aus der leeren Luft zwischen ihnen. »Maureen? Soweit es die Ermittlungen betrifft, hat der Counselor uneingeschränkte Befehlsgewalt. Du musst tun, was sie sagt.«
Lassiters Kiefermuskulatur spannte sich sichtbar. »Darf ich wenigstens darauf hinweisen, dass das eine gottverdammt blöde Anweisung ist, die lediglich dafür sorgen wird, das Leiden eines empfindungsfähigen Wesens unnötig zu verlängern?«
»Das haben Sie gerade«, beschied ich ihr.
Sie drehte den Gleiter erneut, dieses Mal, ohne mich vorher zu warnen. Die ganze Welt stellte sich wieder auf den Kopf, Überwuchs und Himmel tauschten den Platz in einem Zeitraum, der so kurz war, dass mein Gleichgewichtssinn nichts davon wissen wollte. Meine Höhenangst überwältigte den rationalen Teil meiner selbst, der sich mit der dem Gleiter eigenen Gravitation durchaus sicher fühlte, und ich ertappte mich dabei, mich am Sitz festzuklammern, während mein Mund vor stillem, instinktivem Entsetzen offenstand. Aber der Moment ging vorüber. Der Überwuchs, der nun wieder an dem ihm gebührenden Platz war, hing direkt über uns und beglückte mich mit frischer Fremdartigkeit.
Der einzige Vorteil von Lassiters bösem kleinem Manöver war, dass es die Gravitation des Gleiters mit der unserer Umgebung synchronisiert hatte. Unten war unten. Also durfte ich mich über den Rand des Gleiters übergeben, ohne fürchten zu müssen, ich könnte mich mit meinem eigenen Frühstück taufen. Nur gut, dass sie sich mit 180 Grad begnügt und keine volle 360-Grad-Wende hingelegt hatte, denn dieses Mal hatte ich keine Wahl mehr.
Dankbar nahm ich von Skye eine Wasserflasche entgegen. »Also, wie machen wir es?«
Lassiter stieg auf, bis wir knapp drei Meter unter den kämpfenden
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