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Halbgeist: Roman

Halbgeist: Roman

Titel: Halbgeist: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam-Troy Castro
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während der letzten Momente seines Lebens bei dem Brachiator zu sein.
    Er lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, und sein helles rotes Blut breitete sich wie ein Laken unter ihm aus. Das Gesicht war überzogen von tiefen, nässenden Wunden, von denen eine eine Augenhöhle getroffen hatte, in der jetzt nur noch eine unbestimmbare Suppe schwamm, die möglicherweise mal ein Auge gewesen war. Das andere Auge, das erschreckend menschlich aussah, richtete sich auf mich, als ich mich näherte, weitete sich, vielleicht aus Furcht, vielleicht auch nur aus purem Unverständnis. Der Rest seines Körpers war so furchtbar aufgeschlitzt worden, dass einige der nicht identifizierbaren Organe, die durch die Verletzungen bloßgelegt worden waren, ebenfalls Schnittwunden aufwiesen und allerlei Flüssigkeiten absonderten. Aber das Auge war das, was mich berührte, was mir das Gefühl gab, eine Verbrecherin zu sein. Der Brachiator mochte keine Ahnung haben, wer ich war, aber das Auge erkannte mich.
    »Du bist einer der Neugeister.« Er schloss den Mund, schluckte und sprach dann deutlicher weiter. »Ich habe noch nie einen Neugeist gesehen, aber ich habe von ihnen gehört.«
    Ich hörte mich an, als hätte ich meine Puste in New London gelassen. »Weißt du, wo du bist?«
    Der Brachiator schluckte erneut. »Ich bin unter den Toten.«
    Langsam begriff ich Lassiters Groll. Von dieser Kreatur jetzt irgendetwas zu fordern war arrogant und schlichtweg falsch. »Du bist nicht unter den Toten. Du lebst. Da mag nicht mehr viel Leben sein, aber du atmest noch, du siehst mich an, du redest. Verstehst du?«
    Und wieder schluckte er. »Ich bin ein Geist in einem Land der Geister.«
    »Warum? Bitte! Ich weiß, es gibt keinen Grund, warum dich das interessieren müsste, aber da ist etwas Böses, das weiter töten wird, wenn du mir diese Frage nicht beantwortest. Wie kannst du unter den Toten sein, wenn du immer noch reden und atmen kannst?«
    Das verbliebene Auge des Brachiators wanderte aufwärts und gestattete seinem Eigentümer einen letzten Blick auf das Gemetzel, das seinen Stamm und seine Familie zu zerreißen drohte. Gab es in seiner Welt so etwas wie einen Ehepartner? Freunde? Nachwuchs? Dinge, die ihn mit Leidenschaft erfüllten? Dinge, die er hätte ändern wollen? »Die Hand ist fort«, brachte er hervor. »Wie kann ich dann noch leben?«
    Ein letztes Röcheln, und das Auge schloss sich und ging nicht wieder auf.
    Mir war gar nicht bewusst, dass ich zitterte, bis die Porrinyards hinter mir auftauchten und sich links und rechts von mir aufstellten. Sie berührten mich nicht, legten mir nicht wie zuvor die Hände auf die Schultern, aber sie zeigten mir, dass sie da waren, und sie enthielten sich jeglichen Kommentars, als ich wieder zu meinem Platz zurückkehrte.
    Es war nicht das, was er gesagt hatte, was mich so erschüttert hatte. Es war die Verwirrung, die Blindheit, die Hilflosigkeit im Angesicht von Mächten, die sein Begriffsvermögen überforderten, was mir so vertraut erschien. Mo Lassiter hatte recht. Ich wünschte, ich hätte das arme Ding in Ruhe gelassen.
    »War es das wert?«, fragte sie da auch schon hinter mir. »Haben Sie irgendetwas von ihm erfahren?«
    Mein Blick ruhte auf dem toten Brachiator.
    »Ja. Ja, das habe ich.«

17
    SINKFLUG
    Seine Bestattung war kaum der Rede wert.
    Mein erster Gedanke war, den Gleiter erneut zu drehen und ihn einfach fallen zu lassen, aber das war natürlich dumm, da die Gravitation des Gleiters auch die Frachtpritsche erfasste. Lassiter musste auf die Pritsche krabbeln und die Leiche über den Rand schieben. Von unserem Einfluss befreit stürzte er kreiselnd in die Tiefe, wurde zu einem kleinen Fleck und schließlich zu einer Erinnerung, lange bevor die Wolken ihn verschluckt hatten. Als Lassiter zurückkam, war ihr Overall mit glänzendem rosarotem Blut überzogen, und ihre Haltung mir gegenüber war um weitere zehn Grad frostiger, als ich es mir leisten konnte.
    Niemand fand sich bereit, eine Grabrede zu halten. Das hätte keinen Sinn gehabt. Was hätten wir schon sagen können? Dass er tapfer war? Edel? Ein guter, aufrechter Vertreter seiner Art? Wir wussten es nicht. Er mochte ein Held gewesen sein oder ein Gauner oder irgendetwas dazwischen. Für uns bestand die einzig kennzeichnende Eigenschaft darin, dass er gelebt hatte und nun tot war und dass er jetzt besser dran war als während jener flüchtigen Sekunden, die er in unserer Gesellschaft hatte verbringen müssen.

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