Halbgeist: Roman

Arbeit in der Sonne. Sie hatte nur selten gelächelt, es sei denn, ich hatte irgendetwas Altkluges von mir gegeben.
    Wenn ich überhaupt an meine Eltern dachte, dann war damit meist kein anderes Gefühl als tiefe Geringschätzung verbunden, weil diese beiden rücksichtslosen Utopisten mich mit ihrem Experiment dazu verdammt hatten, den Rest meines Lebens eine solche Last unerträglicher Schuld mit mir herumzuschleppen. Kaum je dachte ich an sie als Mommy und Daddy, und dieses Novum wärmte mich für eine Weile, auch dann noch, als ich vage besorgt aufseufzte, weil die Spannung des Materials, das mich trug, nachzulassen schien.
    Meine Träume änderten sich, durchliefen eine Abfolge anderer Sequenzen und gingen schließlich zu erotischen Bildern über, was noch seltener geschah, da ich auch diesen Teil meiner selbst abgeschaltet hatte nach all dem Missbrauch, den ich in der Isolation hatte erdulden müssen. Zum ersten Mal seit langer Zeit, länger als ich mich erinnern konnte, stellte ich mir vor, von anderen berührt zu werden, ohne mich voller Abscheu oder Groll zurückzuziehen: Hände, die aus einem Nebel hervorkamen, den ich nicht durchdringen konnte, kosten mein Gesicht, meine Hüften, meine Brüste. Ich konnte nicht erkennen, wessen Hände es waren oder ob sie überhaupt zu irgendeiner bestimmten Person gehörten. Ich wusste nur, dass sie mir nicht wehtun würden, und ich empfand eine Wärme, die tief aus meinem kalten Inneren aufstieg und jeden vereisten Teil meiner selbst umhüllte. Selbst in der Unbestimmtheit des Traums empfand ich ein wenig Bedauern, da ich das Gesicht des unbekannten Liebhabers nicht sehen konnte, der dafür verantwortlich war, dass ich so empfand, denn die Tatsache, dass ich ein Monster war, besagte, dass solch ein Mensch keinesfalls existieren konnte. Doch dann legte sich auch das Bedauern wieder, denn plötzlich fühlte ich, dass alles, was mich zurückgehalten hatte, plötzlich von mir abfiel.
    Ich hatte das Gefühl zu fliegen.
    Die strenge Stimme eines Mannes, den ich verachtete, dröhnte in meinen Ohren.
    »Andrea! Wachen Sie auf, wenn Sie am Leben bleiben wollen!«
    Ich widersetzte mich, dachte nur: Bringen? Was, zum Teufel, hat Bringen hier zu suchen? Bringen sollte an seinem Schreibtisch in New London festgenagelt sein und diversen flugfähigen Spezies die Flügel ausreißen. Er interessiert sich nicht für mich. Ich könnte mit weniger als dreißig Sekunden Restsauerstoff durch ein Vakuum hüpfen, und er würde nicht einmal den Zeigefinger weit genug ausstrecken, um den Knopf zu drücken, der die Luftschleuse öffnet. Ganz bestimmt würde er nicht durch den halben besiedelten Raum reisen, um in einem auf dem Kopf stehenden Land zu mir zu stoßen. Nein, das würde er nie tun ...
    Ich weiß nicht, wie viele Orte mein Geist danach noch aufsuchte, aber irgendwann hallten nur noch die Worte auf dem Kopf stehendes Land in meinem Verstand wider, hartnäckig genug, mich daran zu erinnern, dass ich auf One One One war, auf einer Station, auf der schon früher Menschen aus großer Höhe abgestürzt waren.
    Ich erwachte gerade noch rechtzeitig, um festzustellen, dass ich auf meine eigenen Beine herabblickte, die über einem Himmel baumelten, der genau in diesem Moment von einem weit entfernten Blitzschlag erhellt wurde. Etwas anderes, groß, formlos und flatternd, stürzte außer Sichtweite, blieb unidentifizierbar, bis es von der Dunkelheit verschlungen wurde.
    Dann fiel ich.

13
    ABGRUND
    Der Haltegurt, den ich dazu benutzt hatte, mich an dem Grat der Hängematte festzubinden, hielt mich zurück, ehe ich zu dem Schluss kommen konnte, dass ich tot war.
    Er spannte sich ruckartig um meinen unteren Rücken, presste die Atemluft aus meinem Leib und hielt den Sturz in meiner Leibesmitte auf, während Oberkörper, Arme und Beine weiterfielen. Ich klappte zusammen, grunzte vor Anstrengung, trat in Panik um mich, während ich wie ein Spielzeug am Ende des Seils kreiselte und unter dem Schock beinahe das Bewusstsein verlor.
    Auf einmal wusste ich, dass jemand versucht hatte, mich umzubringen.
    Ich würde gern erzählen, mein Zorn hätte vollkommen gereicht, das Entsetzen in Schach zu halten.
    Leider kann ich das nicht behaupten.
    Ich glaube, ich habe mich übergeben, ehe mir in den Sinn kam zu schreien.
    Ich bin nicht sicher, ob ich es tat oder nicht, weil ich mich nicht erinnern kann, irgendetwas getan zu haben, und wenn ich auch den säuerlichen Geschmack in der Kehle spürte, war da doch nichts