Halbmast
und biss eine Ecke ab, obwohl ihr die Aufregung auf den Magen schlug. Sie fragte sich nervös, ob der Amerikaner ihren heimlichen Gast in der Kabine bemerkte. «Ich warte noch immer auf meinen Kollegen. Er ist heute noch nicht aufgetaucht.»
«Ich habe das vorhin mit einem halben Ohr mitbekommen. Machen Sie sich Sorgen?»
Ja, Carolin machte sich Sorgen. Doch sie hielt es für besser, diese Tatsache für sich zu behalten. «Er ist ein erwachsener Mann und auf dem Schiff kann man ja nicht so schnell verloren gehen, oder? Wollen wir los? Warten Sie, ich hole meine Kamera.»
Kaum war sie aus der Tür getreten, schob er einen Fuß in die Kabine und blickte sich neugierig um. «Sweet colour!»
«Ja, ich bin auch sehr zufrieden mit meiner Kabine. Wollen wir los?»
«Die Bettdecke ist aus reiner Seide!» Er machte Anstalten, seine dicken Finger auf den zerwühlten Überwurf zu legen. Carolin nahm schnell seine Hand in die ihre, als seien siemiteinander vertraut. Gleichzeitig schob sie sich zwischen Sinclair Bess und den verräterischen Hügel der Bettdecke.
«Das fühlt man sofort, Mr. Bess. Und nun bin ich gespannt auf das Atrium!»
«O ja, das Atrium. Ich werde es Ihnen zeigen. Leider sind die Aufzüge noch nicht in Betrieb, wir müssen also laufen. Aber ich kenne eine Abkürzung. Trotzdem, ich bitte Sie, junges Fräulein, machen Sie nicht so schnelle Schritte, ich bin ein alter, dicker Mann und komme schnell aus der Puste!»
«Sie können hervorragend Deutsch, Mr. Sinclair,
aus der Puste kommen
ist wirklich gut!» Sie schob ihn sanft in den grauen Flur zurück und schaute sich um. Pieter regte sich nicht. Sie schloss die Kabinentür hinter sich zu und lief neben dem Millionär den Flur entlang.
«Mein Vater hat in Heidelberg studiert und dort meine Mutter kennen gelernt.»
«Ach, Ihre Mutter ist Deutsche?»
«Nein, sie kommt aus Togo, was zur Zeit ihrer Geburt noch deutsche Kolonie in Afrika war. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es zu Frankreich. Also sprach meine Mutter französisch, als sie 1950 nach Heidelberg kam, und natürlich deutsch, aber kein Wort englisch. Sie hat mit meinem Vater nur deutsch gesprochen, mit mir französisch, und mein Vater sprach englisch mit mir. Ich bin dreisprachig aufgewachsen. Und das hat mir sehr gut getan.»
«Aber ich dachte immer, Sie seien in den Slums aufgewachsen!»
«Schöne Geschichte, nicht wahr? Stimmt aber nicht ganz. Wir haben zwar am Stadtrand gelebt und die Slums konnte man in fünf Minuten zu Fuß erreichen, aber bei uns zu Hause war immer genug zu essen, warmes Wasser und ein weiches Bett.»
«Also ist diese American-Dream-Story eine Seifenblase?»
«So funktioniert das, Mädchen. Die Leute fahren mit einem guten Gefühl auf meinen Schiffen über die Ozeane, weil sie denken: Ich kann das machen! Ich kann mir das leisten! Jeder Mensch, der nur hart genug für seine Ziele kämpft, kann sich so etwas leisten! Denn sie sehen mich und denken an mein rührendes Schicksal und haben ein gutes Gewissen, wenn sie ihr Geld auf luxuriösen Kreuzfahrten ausgeben, statt es den Bedürftigen zu geben. Sie sagen: Hey, der Sinclair Bess war auch eine arme Sau und hat es geschafft, und dabei ist er auch noch schwarz! Er hat es verdient, dass ich auf seinem Schiff fahre.»
«Das ist zynisch!»
«Yeah, das ist es. Dies ist auch einer der wichtigsten Gründe, warum Schmidt-Katter meine Schiffe baut. Er ist ein ähnlicher Typ. Er steht auch für Integrität.»
Er zwinkerte ihr zu. Sinclair Bess humpelte ein wenig, aber Carolin hatte stark den Verdacht, dass er übertrieb und gern Theater spielte. Obwohl er schon ein seltsamer Kauz war, fand sie ihn keineswegs unsympathisch. Carolin hakte sich bei ihm unter. Sie ließen die Zwischentreppe rechts liegen und gingen durch eine schwere Tür, auf der ein Durchgangsverbot in acht verschiedenen Sprachen geschrieben stand. Immerhin, die Verbotsschilder waren also schon montiert. Der Raum, den sie nun betraten, war niedrig und sehr lang gezogen. An der einen Wand waren zehn Waschbecken montiert, darüber Spiegel, die von lose herumhängenden Kabeln gesäumt waren. Gegenüber reichten die Schränke bis zur Decke. «Ist das der Umkleideraum für die Schauspieler?», fragte Carolin.
«Nicht ganz», sagte Sinclair Bess schnaufend, während er sich durch eine breite Doppeltür schleppte. Dahinter war ein merkwürdiger Raum, ebenso schmal und lang, jedochohne Mobiliar, zudem gab es keine Decke, stattdessen einen Blick auf ein
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