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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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grandioses Gewölbe über ihnen.
    «Der Orchestergraben!», erkannte Carolin nun. «Und die Umkleide eben war für die Musiker.»
    «Man kann den Boden hier auch nach oben fahren, dann ist die Bühne größer. Wenn Celine Dion auf der Jungfernfahrt
My heart will go on
singen wird, werden wir die Band nach hinten setzen und die Künstlerin kann diesen Platz hier nutzen. Wir haben ein komplettes Sinfonieorchester, Top-Musiker aus ganz Europa.»
    Carolin bestieg, die Nikon im Anschlag, eine kleine Betontreppe, von der sie auf die Bühne gelangte. Celine Dion würde sich hier würdig untergebracht wissen. Plüschiger, flaschengrüner Samt spannte sich an den Wänden, eingerahmt von vergoldeten Zierleisten. Über den Publikumssitzen, es mussten gut zwanzig halbrunde Sesselreihen sein, schwebte ein ausladender Kronleuchter. Auch die Bühnenbeleuchtung war bereits angebracht, unzählige große und kleine Strahler hingen über der Bühne wie ein künstlicher Sternenhimmel. Sie musste an Leif denken. Er hatte während der Autofahrt von diesem Saal geschwärmt und sämtliche technische Daten aufgesagt. Es war schade, dass er bei diesem Rundgang nicht dabei war. Vielleicht hätte er auch genervt, weil er wieder versucht hätte, ihr das richtige Fotografieren zu erklären oder sonst etwas Belehrendes von sich zu geben. Aber es hätte ihm gut gefallen.
    Carolin knipste Sinclair Bess, der auf der Bühne stand wie Louis Armstrong persönlich.
    «Halten Sie mich für fotogen?», fragte Sinclair Bess.
    «Das wissen Sie doch genau, Mr.   Bess. Und auf dieser Bühne erst recht.» Sie merkte, dass ihm das Ablichten Spaß machte, und drückte noch ein paar Mal auf den Auslöser. Sinclair Bess machte eine lange Nase, schielte und setzte sichin Entertainerpose. «Und was wird, Ihre kleine Showeinlage ausgenommen, das erste Stück sein, das aufgeführt wird?»
    «Sie werden lachen!»
    «Warum werde ich lachen?»
    «
Tod auf dem Nil
von Agatha Christie.»
    «Ausgerechnet das? Ist das ein gutes Omen für die Jungfernfahrt?»
    «Ich liebe Kriminalstücke, meine Frau liebt Agatha Christie. Und welches Stück würde besser an Bord eines Kreuzfahrtschiffes passen, Omen hin oder her?»
    «Eine Tote und jede Menge Verdächtige, eingeengt auf einem schicken Schiff   …»
    Carolin hob erneut die Kamera, aber Sinclair Bess winkte ab.
    «Nun knipsen Sie nicht den ganzen Film voll. Das Beste kommt jetzt! Schauen Sie, von hier aus gelangen wir ins Atrium!» Sinclair Bess schob sich durch die Reihen. Sein massiger Körper passte kaum in den schmalen Gang des Theaters, der mit leichter Schräge nach oben Richtung Ausgang führte. Vor der verzierten Holztür blieb er stehen und griff zum Handy. «Ich muss erst dafür sorgen, dass alles perfekt ist. Ich habe alles organisiert», flüsterte er aufgeregt. Dann zischelte er Anweisungen in das Gerät und lächelte, als er das Telefon zurück in die Sakkotasche gleiten ließ. «Darf ich Ihnen die Augen zuhalten?»
    «Warum?»
    «Well, ich bin eben ein verrückter Amerikaner. Ich möchte Sie überraschen mit dem phantastischen Anblick, der sich Ihnen gleich bietet. Und aus diesem Grund müssen wir erst ein paar Schritte gehen, bis Sie direkt an der Brüstung stehen. Und dann dürfen Sie gucken!» Er kicherte ein wenig.
    «Meinetwegen!», sagte Carolin und schloss die Augen. Die verschwitzte Hand des Amerikaners legte sich über ihrenNasenrücken. Sie gingen ein paar Schritte. Carolin hatte schon oft davon gehört, dass blinde Menschen mit den ihnen noch zur Verfügung stehenden Sinnen die Größe, die Beschaffenheit ihrer Umgebung beinahe genauso erfassen können wie Sehende. Und in diesem Moment konnte sie diese Eindrücke nachempfinden. Die Haut ihrer Arme ertastete einen offenen, riesigen Raum, ihre Ohren nahmen ein leises Plätschern und dessen tausendfaches Echo aus allen Richtungen wahr. Es roch und schmeckte nach frischer Seeluft und geschliffenem Stein.
    Schließlich fühlten ihre Hände eine kühle, glatte Oberfläche, an der sie sich festhalten konnte. Sinclair Bess nahm seine Hand langsam von ihrem Gesicht. Doch Carolin ließ die Augen geschlossen, sie wollte noch ein wenig auf die andere Art und Weise sehen können.
    «Voilà!», sagte Sinclair Bess.
    Der Anblick war überwältigend. Sie standen auf einem ovalen Vorsprung auf halber Höhe des Atriums. Über ihnen spannte sich eine Glaskuppel, durch die man den graublauen Himmel Ostfrieslands erahnen konnte. Mitten im Raum schien eine luftige

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