Halbmast
nüchternem Zustand aufgesprochen. Carolin spielte dieseAufnahme bereits zum zweiten Mal ab. Er unterstellte allen Beteiligten einen Komplott aus Unehrlichkeit und Machtgier. Klang nach Carolins Geschmack etwas platt und haltlos. Zumal er es nicht auf den Punkt brachte und den Beweis für berechtigtes Misstrauen schuldig blieb. Natürlich betrieb eine Werft dieser Größe Public Relations dieser Art, daran war nichts Unmoralisches zu erkennen. Und dass hinter den Kulissen eben nicht alles eitel Sonnenschein sein konnte, würde ohnehin jeder ahnen. Sicher gab es auch hier Subunternehmer, die Billiglohnkräfte aus Osteuropa arbeiten ließen. Und dass Pieter mit seinen berechtigten Sorgen um die Natur auch nicht gerade ein gutes Licht auf die Arbeit Schmidt-Katters warf, leuchtete ebenfalls ein. Doch nichts davon war Grundlage genug, dass Leif etwas Großes, etwas Empörendes zu präsentieren gehabt hätte. Doch genau das hatte er gestern Abend angedeutet: «Im Nordwesten werden alle Kopf stehen.» Das hatte er gesagt. Leider war nichts von dem Unheil auf dem Mini-Disc-Recorder. Nichts. Frustriert ließ Carolin das Gerät sinken.
Hatte sich die Anstrengung gelohnt, nach diesem Teil hier zu fischen? Nur, damit sie sich Leifs Vermutungen und Unterstellungen anhören konnte? Nun, sie hätte ihren neuen Komplizen nicht getroffen. Sie blickte zu Pieter. Er war eingeschlafen, lag auf dem Bett und atmete tief und entspannt. Es wäre ein Leichtes, ihn nun auszuliefern. Er hatte ein ganz ruhiges Gesicht, wenn er schlief. Vorhin, als er ihr die Sache mit dem Loch im Flussbett erzählt hatte, schien seine Energie auf sie übergegangen zu sein. Carolin hielt sich für eine engagierte Fotografin. Doch es ging ihr bei der Arbeit in erster Linie darum, mit den Bildern Aufmerksamkeit zu erlangen. Es war nicht ihr Ding, sich mit den Themen auseinander zu setzen. Eigentlich ging das zu weit. Doch Pieter machte es einem schwer, gleichgültig zu bleiben.
Es klopfte an der Kabinentür. Carolin zuckte zusammen.
«Miss Spinnaker? Are you here?»
Sinclair Bess’ Rufen und Pochen war dank der lärmresistenten Tür nur dumpf zu hören. Was wollte er hier? Gut, er wohnte beinahe nebenan, vielleicht hatte er sich nach dem Sturz in seiner Luxuskabine etwas erholt und wollte nun sein Versprechen wahr machen. Sightseeing with Mr. Bess. «Ich weiß, Sie sind da, bitte, machen Sie auf. Wir wollten doch mein Baby anschauen.»
Carolin blickte sich schnell um und versuchte Pieter wachzurütteln. Keine Chance. Noch nicht einmal seine Augenlider zuckten. Sollte sie so tun, als sei sie nicht da?
Carolin dachte an die Gespräche auf dem Diktiergerät. Es war Leif gelungen, von etlichen Leuten eine Aussage zu speichern. Doch Sinclair Bess war ihm nicht vor das Mikrophon gekommen. Und vielleicht hatte gerade er eine Aussage parat, die Carolin von Nutzen sein konnte. Sie konnte sein Angebot nicht ausschlagen, gemeinsam das Schiff zu begutachten. Auf diese Weise konnte sie zudem unauffällig und doch effizient nach Leif suchen. Vielleicht ließ Sinclair Bess sogar einen Satz fallen, der ihr einen Hinweis geben würde, was mit Leif geschehen war. Wo sie ihn suchen musste. Auch wenn sie nicht wirklich glaubte, dass der Amerikaner damit etwas zu tun haben könnte.
«Just one minute, Mr. Bess!»
Sie warf die eine Seite der Tagesdecke über Pieter. Er war sehr schmal, man konnte ihn kaum ausmachen unter dem wattierten Bettüberwurf. Sie legte den Seesack daneben, er lenkte von Pieters Umrissen ab.
Obwohl er noch immer im Tiefschlaf zu sein schien, flüsterte sie ihm zu: «Ich bekomme gerade Besuch. Halt dich ruhig, ich werde ihn bald abservieren. Bin dann gleich wieder da. Bleib, wo du bist, okay?» Er nickte kaum merklich,und sie schob eines der voluminösen Kissen vor sein Gesicht, sodass er in dem Wulst aus Tasche, Bett und Stoff so gut wie verschwunden war.
Dann packte sie das Diktiergerät in die Knietasche ihrer ausgebeulten Arbeiterhose und ging zur Tür. «Mr. Bess, geht es Ihnen wieder besser?» Sie öffnete nur einen Spaltbreit. Sinclair Bess stand fröhlich grinsend davor.
«Ein Indianer kennt keinen Schmerz, sagen Sie doch in Germany immer. Ein lustiger Satz, ein Indianer kennt keinen Schmerz. Sie waren nicht beim Frühstück, und da habe ich mir Sorgen gemacht, ob es Ihnen vielleicht nicht gut geht.» Er hielt ihr einen mit Schinken und Käse belegten Croissant entgegen.
«Danke, es geht mir gut!» Carolin nahm das Gebäck entgegen
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