Halbmast
Skulptur zu schweben, weiß und leicht. Obwohl sie aus massivem Marmor war, wirkte sie schwerelos. Es war eine filigrane Frau mit endlosen Haaren und einem Fischschwanz, dessen Schuppen perlmuttfarben glänzten. Die Poseidonna, fiel es Carolin ein. Poseidon, der Gott des Meeres, und Donna, die schöne Frau, vereint zu einer makellosen Königin der Wellen. Unter ihrer Flosse reichte das Wasser der Fontäne bis auf wenige Zentimeter heran. Ein gutes Dutzend spindeldürrer Strahlen, die sich kerzengerade vom Boden bis hierherauf erhoben und farbig beleuchtet wurden. Wenn man genau hinschaute, erkannte man die durchsichtigen Röhren, durch die das Wasser lief, bis es sich, oben bei der Statue angekommen, zum geleitetenSturz in die Tiefe beugte. Unsagbar kitschig, wenn man es genau nahm. Aber auch grandios gemacht. Kein einziger Spritzer fiel daneben und machte die weißen Säulen nass, die ringsherum standen. Die glitzernden Tropfen folgten artig dem für sie vorgesehenen Weg nach unten und landeten wieder im Brunnen am golden schimmernden Boden des Atriums.
Aber was war das für ein seltsamer Fleck in der Mitte? Eine rot umflossene Gestalt. Erst dachte Carolin, auch dieses wäre eine Skulptur, ein Kunstwerk. Aus irgendwelchen nicht nachvollziehbaren Gründen, dachte sie, hatte ein Innenarchitekt einen grausam verrenkten Körper auf den Boden des Springbrunnens platziert. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich ihre Augen von der übertriebenen Pracht dieses Raumes losreißen konnten und erkannten, dass dort unten im Wasser ein Toter lag.
Carolins kurzer Aufschrei wurde von den vielen Stockwerken, den halbrunden Balkonen und der gläsernen Balustrade zurückgeworfen, sein Echo füllte das Atrium.
Sie schaute nicht weg. Sie führte ihre Kamera ans Auge und drückte den Auslöser. Es klackte. Immer, wenn sie in ihrem Job an die Grenzen stieß, so wie in diesem Moment, war sie dankbar für das vertraute Geräusch ihrer Nikon.
Bis Sinclair Bess dem Objektiv der Kamera folgte und ebenfalls zum Boden blickte. Sein Entsetzen war lauter. Carolin konnte nichts verstehen, kein Wort, sie war nur damit beschäftigt, das Teleobjektiv, welches noch immer auf der Nikon steckte, ganz weit auszufahren und schließlich die tote Gestalt dort unten ganz nah heranzuzoomen. Sie konnte erkennen, dass die Beine im unnatürlichen Winkel vom Körper abstanden und dass ein bandagierter Arm viel zu weit aus dem Ärmel des Hemdes ragte. Der Kopf war scheinbar unversehrt, das blutige Brunnenwasser verfärbteden Blick auf das Gesicht, eine dunkelrote Lache schwamm über die Augen, die noch geöffnet waren.
Es sah aus, als läge Wolfgang Grees dort unten und richtete den leeren Blick auf die Pracht seines Schiffes.
Marten
Wolfgang Grees war tot. Selbst im Fahrstuhlschacht, in dem Marten auf der Kabelmulde eingenickt sein musste, konnte man die Aufregung hören, die von einem Moment auf den anderen das Schiff erfüllte.
Die Tatsache, dass der Mechaniker in die Tiefe gestürzt war, machte alles anders. Marten wünschte, er wäre in Leer von Bord gegangen. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, dass er mit auf die Reise gegangen war. Jetzt, wo es einen Toten gegeben hatte, würde es fast unmöglich sein, unerkannt von Bord zu kommen. Die Chancen waren minimal. Man würde ihn sofort verdächtigen, Wolfgang Grees über das Geländer gestoßen zu haben. Und das zu Recht. Er hatte Perl eingesperrt und somit eine kriminelle Handlung begangen. Es würde ihnen leicht fallen, aus ihm auch einen Mörder zu machen. Wer würde ihm die Wahrheit glauben? Jetzt durfte er niemandem mehr begegnen. Sonst wäre alles vorbei.
Es gelang Marten, sich über seine geheimen Wege durch die Klimaräume bis zur Brücke vorzuwagen, ohne dass jemand seine Gegenwart zu bemerken schien. Nun hockte er, lediglich durch die Wandverkleidung von der Kommandozentrale getrennt, auf einem winzigen Fleckchen und konnte durch die schmalen Ritzen der Lüftungsanlage dasGeschehen beobachten. Sein Herz raste, und er hatte Sorge, dass er durch das Rauschen in seinen Ohren nur die Hälfte dessen verstehen konnte, was sich die Herrschaften dort zu erzählen hatten.
«Wir können unmöglich Halt machen. Die Wettermeldungen haben bis heute Abend einen heftigen Sturm vorausgesagt.» Es war Kapitän Pasternak, der diesen Satz sagte.
Schmidt-Katter reagierte sofort. «Einen Sturm? Das kann nicht sein!»
«Sie haben das Unwetter eigentlich für Nordfriesland angekündigt, wir sind selbst ziemlich
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